Die Hoden sind unser Unglück

Der Königsweg zum innersten Geheimnis und zur Wurzel des Antisemitismus wird sich auch bei Entschlüsselung des sexuellen Neidmotivs nicht auftun. Die Erregung der Antisemiten über das ekstatische, von einem wurzellosen Juden bedichtete Jauchzen ihrer Bräute [gemeint ist Paul Mayers Gedicht Ahasvers fröhlich Wanderlied (1913)] deutet aber darauf hin, daß es sich lohnen könnte, dieser Spur zu folgen, auch auf einigen Seitenwegen, von der Judenfeindschaft in der Antike über den christlichen Antijudaismus, den allmählich sich herausbildenden modernen Antisemitismus und seine rassenideologische Radikalisierung bis hin zur antizionistischen Greuelpropaganda arabischer Medien, die inzwischen jedes einst im Abendland ausgestreute Gerücht über die Juden aufgegriffen haben und nach Kräften kolportieren. (S. 278)

Gerhard Henschel - NeidgeschreiSo resümiert Gerhard Henschel gegen Ende seines Buchs Neidgeschrei – Antisemitismus und Sexualität in aller Bescheidenheit und man könnte meinen, er habe auf den vorhergegangenen Seiten nichts Wesentliches zur Befestigung dieses Trampelpfades beigetragen. Mitnichten.

Henschel breitet in zwölf Kapiteln ein bestürzendes sexualantisemitisches Panoptikum von der Antike bis zur Gegenwart aus. In acht Jahren Arbeit hat der “Großkunde der Hamburger Staatsbibliothek” (Henschel über Henschel in der Sendung Zwischentöne im Deutschlandfunk) unglaublich viele Quellen gesichtet, ausgewählt, unter verschiedenen Aspekten sortiert und zusammengefügt. Meist moderiert er, nur gelegentlich streut er spitze Bemerkungen ein oder fällt mit zitierter Gegenrede ins Wort. Manchmal will sich das sperrige und hanebüchene Material nur ungenügend in einen Lesefluß zwingen lassen; läßt man sich davon aber nicht schrecken und macht sich auch noch die Mühe, die vorbildlich gepflegten Fußnoten mitzulesen, erhält man nicht nur einen tiefen Einblick in die (Sexual-)Pathologie des Antisemitismus, sondern wird ebenso mit einem bunten Strauß neuer Leseanregungen belohnt.

Das erste Kapitel etwa befaßt sich mit dem 1917 veröffentlichten “sexualantisemitischen Bestseller” Die Sünde wider das Blut von Artur Dinter. Hier wird dem arischen Romanhelden von seiner ebenso reinrassigen Ehefrau (“blonde Nordgermanen”) ein Kind geboren:

Aber zu seinem und seiner Frau Entsetzen geschah das ganz Unfaßliche, ganz Ungeheure, sie gebar ein Kind mit schwarzem Kraushaar, dunkler Haut und dunklen Augen, ein echtes Judenkind.

Wie konnte es dazu kommen? Natürlich lag es an der Frau. Sie gilt – nur nebenbei – dem völkischen Mann im allgemeinen seit jeher als unsichere Kantonistin. Diese hier im besonderen hatte sich von einem “getauften jüdischen Offizier”, wie sie nun gestehen mußte, verführen lassen. Nur um Mißverständnisse zu vermeiden: das Kind war nicht etwa von diesem Offizier – die Geschichte war lange her. Der Fall liegt anders. Henschel:

Die Theorie, daß der empfangene männliche Samen eine Frau für immer präge, wurde im frühen zwanzigsten Jahrhundert [nicht nur von völkischen Eugenikern, sondern] auch von Medizinern, Psychologen und Pädagogen vertreten.

Der Esoteriker Rudolf Steiner hält 1922 sogar nicht einmal Sperma für erforderlich:

Ja, ich bin meinerseits davon überzeugt, wenn wir noch eine Anzahl Negerromane kriegen, und wir geben diese Negerromane den schwangeren Frauen zu lesen, in der ersten Zeit der Schwangerschaft namentlich, wo sie heute ja gerade solche Gelüste manchmal entwickeln können – wir geben diese Negerromane den schwangeren Frauen zu lesen, da braucht gar nicht dafür gesorgt werden, daß Neger nach Europa kommen, damit Mulatten entstehen; da entsteht durch rein geistiges Lesen von Negerromanen eine ganze Anzahl von Kindern in Europa, die ganz grau sind, Mulattenhaare haben werden, die mulattenähnlich aussehen werden!

Dinter läßt es seinen Romanhelden etwas zoologischer ausdrücken:

Es ist ein bedeutungsvolles und in der Tierzucht ganz bekanntes Rassegesetz, daß ein edelrassiges Weibchen zur edeln Nachzucht für immer untauglich wird, wenn es nur ein einziges Mal von einem Männchen minderwertiger Rasse befruchtet wird. Durch eine solche aus unedlem männlichen Blute erzeugte Mutterschaft wird der ganze Organismus des edelrassigen weiblichen Geschöpfs vergiftet und nach der unedeln Rasse hin verändert, so daß es nur noch imstande ist, unedle Nachkommen zur Welt zu bringen, selbst im Falle der Befruchtung durch ein edelrassiges Männchen. Je höher entwickelter ein Lebewesen ist, um so eindringlicher tritt dieses Rassegesetz in die Erscheinung und seine höchste und folgenschwerste Wirkung erreicht es natürlich beim Menschen. Nun ermesse man den Schaden, der jahraus jahrein der deutschen Rasse durch die Judenjünglinge zugefügt wird, die alljährlich tausende und abertausende deutscher Mädchen verführen! (alle Zitate S. 37-41)

Hier schließt also gleich das sexualantisemitische Vorurteil an, daß Juden blonden Hüterinnen der arischen Art nachstellten, nicht nur aus grundsätzlicher Lüsternheit (ein weiteres), sondern zuvorderst um sie für die Rassezucht für immer zu verderben. Und dies ist nur eines unter sehr, sehr vielen, die Henschel ausbreitet. Am Beispiel von Houston Stewart Chamberlain macht er deutlich: das Weltbild des Antisemiten ist hermetisch, Auswege gibt es keine. Henschel:

Ob sie sich abschotteten oder assimilierten, ob sie orthodox blieben oder konvertierten, ob sie ihr Blut rein erhielten oder mischten – weder so noch so konnten es die Juden den Antisemiten recht machen. Heirateten die Juden unter sich, dann zählten sie zum fleckenlosen, nach der Weltherrschaft greifenden Hauptstock; gingen sie Mischehen ein, so schwächten sie die Nachkommenschaft ihrer Feinde, um noch geschmeidiger nach der Weltherrschaft greifen zu können. Und hinter allem steckte ein meisterlich konstruierter Geheimplan, in biblischer Zeit von machthungrigen Erzvätern ausgeheckt und seither bis ins kleinste befolgt von Millionen Juden in der Diaspora, von Mesopotamien über Kyritz an der Knatter bis Manhattan. Der Einwand, daß es schlechterdings unmöglich sei, so viele Komplizen über einen so langen Zeitraum in ein Komplott einzubinden, geht fehl: Damit der große Plan sich erfülle, mußten die Juden keine einzige Verhaltensmaßregel einhalten. Es stand ihnen gänzlich frei, Rabbiner oder Hollywoodmogul zu werden, Bolschewist oder Bankier, Gigolo oder Ölmagnat oder auch nur Scherenschleifer und Lumpensammler: in jeder dieser Rollen trugen sie, bewußt oder unbewußt, gewollt oder ungewollt, ihr Scherflein zum Gelingen der Verschwörung bei. So raffiniert war der Plan, daß er die Möglichkeit, ihm entgegenzuwirken ausschloß, denn die Juden mußten ihn nicht einmal kennen, um sich nach ihm zu richten; ja, sie mußten sich nicht einmal nach ihm richten, um sich nach ihm zu richten, denn es war ihnen gar nicht möglich, etwas zu tun, das ihm nicht entsprach […]. Es bedurfte fürwahr einer stupenden politischen Meisterschaft, eine Welteroberungsstrategie zu entwickeln, die unfehlbar aufgehen mußte, auch wenn sich niemand daran hielt und sie allein den Antisemiten bekannt war. (S. 187f.)

Im vorletzten Kapitel fragt Henschel nach den Gründen für den Antisemitismus. Am plausibelsten erscheint ihm Jean-Paul Sartre, der in seinen Betrachtungen zur Judenfrage versuchte, den Antrieb eines Antisemiten zu begreifen:

Er kann sich so bis zur Besessenheit unzüchtige oder verbrecherische Handlungen vorstellen, die ihn erregen und seine perversen Neigungen befriedigen, aber da er sie zu gleicher Zeit diesen schamlosen Juden zuschreibt, die er mit unsäglicher Verachtung straft, so befriedigt er sich, ohne sich etwas zu vergeben. (S. 261)

Den meisten ebenfalls in diesem Kapitel vorgestellten tiefenpsychologischen Deutungsversuchen erteilt Henschel eine Absage, der “abstrusesten Theorie” von Béla Grunberger und Pierre Dessuant (Narzißmus, Christentum, Antisemitismus. Eine psychoanalytische Untersuchung, Stuttgart 2000) allemal:

Die zweite erhebliche Verdauungsstörung Hitlers ging im engeren Sinne auf seine nichtintegrierte Analität zurück: Er hatte chronische Verstopfung und litt an Magenschmerzen, Magenkrämpfen und Flatulenzen (die Gase haben bei Hitler die bekannte todbringende Rolle gespielt). […] Angesichts der psychischen Organisation Hitlers, bei dem die Genitalität durch die – wiederum oralisierte (narzissierte) – Analität ersetzt war, sei uns der Gedanke erlaubt, daß sich die Phantasiebildung des Führers anstelle einer genitalen Orientierung auf die analen und oralen Bereiche beschränkte; der Penis war durch den Fäkalzylinder ersetzt, die Vagina durch die unteren und oberen Extremitäten des Verdauungskanals. […] Was waren die Vernichtungslager mit ihren Gaskammern, Verbrennungsöfen und Sammelgräbern, wo die Leichen verwesten, anderes als riesige reptilienhafte Verdauungsorgane? Die Struktur des Konzentrationslagers war aufgebaut wie eine gigantische Kolon-Struktur, deren Anus an den Mund Hitlers erinnert, der die Exkremente seiner Sexualpartnerinnen verschluckt.

Henschel meint, man müsse lange nachdenken, wollte man eine aberwitzigere Erklärung für den Holocaust ersinnen. Aber auch sein abschließender Ausblick auf die “islamischen Diskursbeiträge” stimmen alles andere als tröstlich:

Aus den permissiven Gesellschaften des Westens ist der Sexualantisemitismus ins Morgenland umgezogen, gemeinsam mit etlichen alten Nazis und beflügelt durch arabische Übersetzungen von Adolf Hitlers ‘Mein Kampf‘ und der gefälschten ‘Protokolle der Weisen von Zion‘, auf die sich auch Ayatollah Chomeini berufen hat. Islamische Fundamentalisten haben Übung darin, mit Hitler zu symphatisieren, sich einen neuen Holocaust herbeizuwünschen und zugleich abzustreiten, daß es dafür irgendein historisches Vorbild gebe. In der bis zur Nekrophilie gesteigerten Verherrlichung des Opfertodes kommen die Ideale der SS und der muslimischen Gotteskrieger zur Deckung. (S. 282)

Und auch Chomeinis Ausmerzungsfantasien (Fn. 7, S. 359) gleichen denen Himmlers frappierend.

Gerhard Henschels Neidgeschrei ist ein reiches, mit hohem Aufwand geschriebenes Buch, das zu wenige Leser finden wird. Vielen wird es zu akademisch anmuten und die historische Zunft wird Vorbehalte hegen gegen einen vielseitigen Schriftsteller, der als Satiriker gilt. Dem Neidgeschrei bleibt nur das Niemandsland – aber hier wohnen ja bekanntlich die hübschesten Bücher und die verwegensten Leser.

PS: Da es in Henschels Buch keinen Platz fand, aber meine erste Buchassoziation zu seinem war, sei zur Parallellektüre ans Herz gelegt: George L. Mosse, Nationalismus und Sexualität, München 1985.

Bild: Hoffmann und Campe

Gerhard Henschel, Neidgeschrei – Antisemitismus und Sexualität, Hamburg 2008

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