Abends zähl ich Lamm um Lamm,
lehnend an dem Feigenstamm,
gebe jedem seinen Namen,
streu mein Herz als wilden Samen
in den Wüstenwind.
Ruf die Sichel frühen Mondes,
daß sie mir ein weiches blondes
Gräslein mähe für mein Kind.
Eine schlanke Ringelnatter
bitte ich mir zum Gevatter
und sie hängt ihr zieres Krönlein
freundlich für mein Wundersöhnlein
auf im Feigenbaum.
Aber dann die Morgenröte
weckt mit ihrer Sorgenflöte
jäh mich aus dem Traum.
Hab kein Kindlein, keine Tiere,
und der Stamm, an dem ich friere,
trägt nicht eine Frucht.
Lauernd und verrucht
kühlt die kronenlose Schlange
meine warmgeträumte Wange.
Christine Lavant, zuerst in: dieselbe, Die Bettlerschale, Salzburg 1956, hier nach: Hubert Fichte, Mein Lesebuch, Frankfurt am Main 1976, S. 186f.