TRAUMWALD

Heut nacht durchschritt ich einen Wald im Traum
Er war voll Grauen Nach dem Alphabet
Mit leeren Augen die kein Blick versteht
Standen die Tiere zwischen Baum und Baum
Vom Frost in Stein gehaun Aus dem Spalier
Der Fichten mir entgegen durch den Schnee
Trat klirrend träum ich seh ich was ich seh
Ein Kind in Rüstung Harnisch und Visier
Im Arm die Lanze Deren Spitze blinkt
Im Fichtendunkel das die Sonne trinkt
Die letzte Tagesspur ein goldner Strich
Hinter dem Traumwald der zum Sterben winkt
Und in dem Lidschlag zwischen Stoß und Stich
Sah mein Gesicht mich an: das Kind war ich.

1994

Heiner Müller, zuerst in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Januar 1995 (o. T. und in orthographisch anderer Fassung), hier nach: derselbe, Werke 1, Die Gedichte (hg. von Frank Hörnigk), Frankfurt am Main 1998, S. 298

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