***
24. Februar:
Den ersten richtigen Spaziergang durch Nürnberg machten wir erst heute. Das Ausmaß der Zerstörung ist sehr viel größer, als es mir anfangs vorkam. Etwa 80 Prozent der Stadt liegt in Trümmern. Dabei ist bemerkenswert, dass die Amerikaner Nürnberg erst im Januar 1945 bombardierten. Das gesamte Bombardement dauerte nur acht Tage. In diesen acht Tagen wurde die tausendjährige Stadt in Schutt und Asche gelegt.
Der hinkende Deutsche, der uns durch Nürnberg führt, prahlt damit, dass er bis zum Zweiten Weltkrieg zwei Millionen Deutschen die Stadt gezeigt habe. In einem fort präsentiert er uns zerstörte Gebäude: hier hat Hitler eine Parade abgenommen, hier sind die Bierkeller, in denen er Bier trank und die Vernichtung vorbereitete; hier ist die Kirche Sankt Sebaldus, die fünfhundert Jahre alt ist; dort — die Frauenkirche; auf einem Hügel links — das zertrümmerte, zweistöckige grüne Haus, wo Albrecht Dürer wohnte und arbeitete — der deutsche Maler, Bildhauer und Festungsbauer.
Nicht weit von diesem Haus steht wahrhaftig eine große Bronzestatue für Albrecht Dürer. Das Denkmal ist rußgeschwärzt. Der Sockel schwer beschädigt. Und das Auge des Meisters ist von einem Bombensplitter durchschlagen.
Rund um die ganze Stadt, in einem Kreis von acht Kilometern — zwei massive Festungsmauern und dazwischen ein tiefer Graben. Auf den Mauern — Wachtürme. Wir besuchen Nürnbergs ältesten Friedhof. Hier sehen wir das Grab Dürers und eines seiner Gemälde auf der Wand einer Kapelle. In der Kapelle sehen wir auch Skulpturen von Adam Kraft.
Unter den Grabsteinen, acht Meter in der Tiefe, in Katakomben aus rotem Backstein — befinden sich die Särge. An einigen Stellen haben Bomben die Decken zerstört und wir sehen die Särge in der Tiefe deutlich. Interessant sind die Bronze-Basreliefs auf den Grabsteinen, gefertigt im 16. Jahrhundert in Vischers berühmten Gießereien.
Wie ich bei der Rückkehr ins Hotel erfahre, ist es so gut wie beschlossene Sache, dass von unserer Gruppe auf dem Prozess nur vier Zeugen aussagen: Jakov Grigor’ev, der Priester Nikolaj Ivanovic Lomakin, Tarkovskij, der sich aus dem Großlazarett rettete, und ich. Hoffentlich bleibt es bei diesem Beschluss.
Der Zeuge Dovid Budnik, Elektroingenieur, geboren 1911 in Belaja Cerkov’, wohnhaft in Kiev, berichtet mir:
1941 war ich in der Roten Armee mobilisiert. Am 19. September drangen die Deutschen in das von ihnen eingekesselte Kiev vor. Einige Tage später fasste man mich und ich wurde zur Arbeit gezwungen. Von da geflohen. Bei einer zweiten Razzia auf dem Krescatik wurde ich in ein Lager auf der Kerosinnaja ulica abgeführt. Dort befanden sich etwa 3.000 Juden. Fünf ganze Tage gab man ihnen nichts zu essen. Kinder bis zum Alter von 16 Jahren und Menschen über 50 Jahre alt hat man selektiert. Sie wurden abgeführt und wenig später brachte man ihre Kleidung zurück. Ich durchlief mehrere Selektionen und wurde ins Konzentrationslager Syrec hinter Kiev deportiert.
Im Lager Syrec befanden sich einige tausend Menschen unterschiedlichster Nationalitäten, darunter etwa 200 Kiever Juden. Der Kommandant Radomski, stets in Begleitung seines Hundes Rex, dachte sich die wüstesten Folterungen aus. So befahl er etwa seinem Opfer eine hohe Pappel hinaufzuklettern, am Wipfel einen Strick anzubinden und den Strick auf die Erde zu werfen; dann befahl er den Baum abzusägen und an dem Strick zu ziehen — bis das Opfer mit dem Baum herunterfiel und starb.
Am 18. August 1943 selektierten die Deutschen aus dem Lager hundert Gefangene, darunter 60 Juden, der Rest Ukrainer und Russen und verschleppten uns nach Babij Jar. Dort führte man uns Unglückliche zu einem Graben hinunter, legte unsere Füße in Ketten und sperrte uns in einen Bunker. Man befahl uns die Toten auszugraben und sie zu verbrennen. Unser Kommandant hieß Topheide. Nach einigen Tagen kamen weitere 350 Personen zu uns. Die Deutschen nannten uns Leichenverbrenner ›Figuren‹ — so wie sie auch die Leichen bezeichneten.
Jeden Tag erreichten Gaswagen Babij Jar und luden 60–70 Vergaste aus. Wir hörten ständig aus den Gaswagen verzweifelte Schreie. Wenn die Tür sich öffnete — waren einige Menschen noch halb lebendig. Die Deutschen erschossen sie dann. Es gab nur einen Fall, bei dem ein Kirovgrader am Leben blieb. Im Gaswagen benetzte er sein Hemd mit Urin und hielt es sich vor Nase und Mund, so dass das Gas nicht durchdrang.
Nachdem wir alle Toten verbrannt hatten — etwa 80.000, sahen wir, wie eine zweite Gruppe zwei große Öfen baute. Wir verstanden sofort, dass diese Öfen für uns sind.
Fast von Anfang an existierte im Bunker eine Untergrund-Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hatte, zu fliehen. In der Nacht des 29. Septembers 1943 haben wir mit einem Schlüssel, den wir bei den Toten gefunden hatten, die Bunkertür geöffnet, brachen aus und stürzten uns mit lautem Gebrüll auf die Deutschen. Nach einem kurzen Kampf, bei dem einige Deutsche fielen, verteilten wir uns über das Tal. So wie wir, brachen auch die Leichenverbrenner aus dem zweiten Bunker aus und stürzten sich mit Spitzhacken auf die Deutschen. Sofort wurden Leuchtraketen gezündet. Von allen Leichenverbrennern blieben 14 am Leben. Unter ihnen: Vladimir Davidov, Iankl Kaper, Leonid Ostrovski, Vladimir Kuklia, Chaim Vilkins, Leonid Doliner, Ziame Trubakov, Brodski, Dovid Budnik, Volodye Kotliar und Senia Berliand.