Das Protokoll meiner Zeugenaussage ist bereits fertig. Mit einem Taxi fährt man mich durch ganz Moskau und kleidet mich ein. Morgen, sechs Uhr in der Früh, muss ich zu Chomic kommen. Ich werde nach Nürnberg fliegen. Es ist schon lange her, dass mich ein so starkes inneres Erleben beherrschte. Ich stand zehn Minuten vor meiner Wohnung und habe sie nicht erkannt. Ich spüre die enorme Verantwortung meiner Reise. Ich bete, dass die ausgelöschten Seelen der Ermordeten durch meine Rede Klage führen. Ich will Jiddisch reden. Unbedingt Jiddisch. Ich habe darüber mit Erenburg, mit dem Ankläger Smirnov und allen anderen gesprochen. Ich will in der Sprache des Volkes sprechen, welches sich die Angeklagten anmaßten auszurotten, zusammen mit seiner Sprache. Man soll unsere Muttersprache hören. Man soll unsere Sprache hören und Alfred Rosenberg soll vor Wut platzen. Möge meine Sprache in Nürnberg triumphieren als ein Symbol von Unvergänglichkeit.
Heute vor genau 75 Jahren begann in Moskau die Reise des jiddischen Dichters Avrom Sutzkever nach Deutschland, um für den sowjetischen Ankläger beim Nürnberger Prozess als Zeuge auszusagen. Aus diesem Anlaß poste ich in den kommenden Wochen täglich seine Tagebucheindrücke, die — kommentiert und begleitet von Gedichten und Zeichnungen — unlängst von mir bei Hentrich & Hentrich herausgegeben wurden.
Mit Mühe und Not heute von Vilna nach Moskau gelangt. Wäre Kravetski, der Verwalter der Vilnaer Philharmonie nicht gewesen — niemals hätte ich ein Ticket erhalten und hätte so die ganze Angelegenheit verpasst. In Moskau — große Aufregung. Alle suchen mich. Erenburg rief zweimal bei mir an. Teumin vom Informbüro ist sich sicher, dass ich zu spät bin. Ich darf gar nicht daran denken. Ich habe wahrhaftig das Auftreten als Zeuge bei diesem Prozess von welthistorischer Bedeutung verpasst? Ich rufe Chomic an, von dem mein Auftritt abhängt. Seiner Antwort nach bin ich mir sicher, dass ich zu spät angekommen bin.
Ich gehe hinunter auf die Straße, ins Komitee. Freydke ist nervös, obwohl sie glaubt, dass ich auf jeden Fall fahre. Ich rufe Erenburg an — fühle mich ihm gegenüber schuldig, war er es doch, der mich zum ersten Kandidaten der Anklage erklärte, und am Ende — zu spät. Er antwortet mir aber bestimmt, dass ich es weiterhin telefonisch versuchen soll.
Als ich abends zurückkomme, ist zu Hause alles in Aufruhr. Schon vier Anrufe vom Komitee, dass ich sofort kommen soll. Heißt das, doch nicht zu spät? Mit meinem Bündel Material laufe ich los. Man macht ein Protokoll meiner Zeugenaussage, das Ganze dauert fünf Stunden.
Diese Stühle sind eine gute Bleibe Vom Vorgefühl Jener Zweig Geht Kommt Steigt hinan Wallt schweißig Erschöpft In diesem Raum Es läutet traurig der Zweite November
Begrabene Wie schneiden Eure verbrauchten Zähne ein Zum Grund Durchprüfen erblindete Nerven Ohne Erinnern an ausdauernde Stränge Die aufgeblähte Kantorenarbeiter Zusammenflicken Mit unaufhörlicher Faser Unzählige Knoten Pulsierend von Scheidewegen
Ihr Ihr Begrabenen Glänzender Knie Von soviel Ausgeliefertsein keusch Wie zersägt Ihr das Herz eines andern Mit Euren weißlichen Kränzen Gelichteter Innigkeit Ja Ihr Ihr Begrabenen
Es läutet traurig der Zweite November Und vom Vorgefühl Jener Zweig Den ein Fuhrwerk zerfrißt Das gleichgültig Über die Straße Rollt
Übertragung: Helmut J. Psotta
Nach: Grupo Chaclacayo, Todesbilder — Peru oder Das Ende des europäischen Traums, Berlin 1989, S. 28
Irrelevantes, Randständiges, Zusammengewürfeltes und Ephemeres stehen im Fokus der Fotografen Holger Siefken und Arndt Beck. Zwischen pandemischer Reklame, Streetart und was die Sonne sonst noch so bescheint, ertasten sie auf ihren Wegen und Abwegen die Epidermis der Stadt. In STADT | WAND | SCHLUSS verdichten sie Fixiertes zur gemeinsamen fotografischen Bestandsaufnahme. Ebenso schnöde wie schön, ebenso banal wie besonders. Eine geballte Überdosis Berlin.
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Vor-Vernissage
am Freitag, den 9. Oktober, 20 Uhr:
»Ein Grenzfall zwischen Engel, Frau, Mann und Tier«: Jens Bjørneboe zum 100sten. Lesung von Arndt Beck
Ein Leben im Kampf gegen die »alles beherrschende Ungerechtigkeit«, gegen die »Kälte des Herzens« und gegen die »menschliche Bestialität« führte und litt Norwegens umstrittenster Schriftsteller: Jens Bjørneboe. Punktgenau zu seinem 100sten Geburtstag ehren wir einen großen Unangepassten, Anarchisten und heiligen Trinker. Skål!
Eintritt frei, Spenden und Anmeldung erwünscht
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Vernissage am Samstag und Sonntag, den 10./11. Oktober, jeweils ab 16 Uhr:
Zwischen Genussmitteln und Unterhaltungsmusik stets zum Verkaufsgespräch bereit: die Fotografen …
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Finissage
am Samstag, den 17. Oktober, 20 Uhr:
Ansgar Wilken musiziert
Der
Hosentaschen-Avantgardist Ansgar Wilken spielt nicht
nur Cello und Kleinstpercussion, sondern nutzt auch Kurzwaren und
Küchenutensilien, um es Dir in seinem einzigartigen, verspielten
Klangmikrokosmos heimelig zu machen.
Ich weise auf den schönen Brauch der kolumbischen Uaxakitaputitls hin: wer das Bildnis des Toten gefertigt, wurde in Gold gekleidet, sang vor dem Scheiterhaufen des Ausgeblichenen die Wacht am Rhein auf jiddisch und wurde mitsamt dem goldenen Kleide auf der Leiche seines Modells verbrannt.
zuerst in: Der Querschnitt, 3. Jg. 1923, S. 25f.; hier nach: Carl Einstein, Werke, Band 2, 1919-1928, Berlin 1981, S. 274
Und noch bis zum 9. Juli: die Ausstellung Neolithische Kindheit im Haus der Kulturen der Welt (Berlin).
Ein einziges Mal in seinem langen Leben betrat der jiddische Dichter Avrom Sutzkever (1913 – 2010) deutschen Boden. Der sowjetische Ankläger hatte ihn als Zeuge zum Nürnberger Kriegsverbrechertribunal geladen. Landsberg (Gorzów Wielkopolski), Berlin, Nürnberg und Fürth sind die Stationen seiner Reise im Februar/März 1946.
Arndt Beck hat Teile von Sutzkevers Tagebuchnotizen sowie einige Gedichte erstmals ins Deutsche übertragen und insbesondere seine Berliner Erfahrungen und Eindrücke zu einem Vortrag collagiert.
Und Hilde Haberland singt ein Lied.
8. Mai, 21:11 Uhr
Der Schnapphahn
in der Babinischen Republik
Dresdener Straße 14
10999 Berlin