Noch bis zum 11. November sind in der Ausstellung Vom Werden und Vergehen – Suche nach der Identität in Berlin einige neue Kaliningradbilder von mir zu sehen. Anbei sei mein Beitrag (neben einer kurzen Erläuterung) auch hier dokumentiert:
Nach meinem sechswöchigen Aufenthalt im vergangenen Jahr und der anschließenden Ausstellung im studio im hochhaus hatte ich im April diesen Jahres erneut die Gelegenheit nach Kaliningrad zu reisen. Im Rahmen des Projekts Trialog der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder konnte ich an einer einwöchigen Sommerschule in Zelenogradsk (Kaliningrader Gebiet) teilnehmen.
Im Anschluß an diesen Aufenthalt stellte ich mit dem Material von 16 weiteren Teilnehmern aus Rußland, Polen und Deutschland eine Ausstellung zusammen. Das Ergebnis war bis zum 23. September in der Bibliothek-Galerie der Viadrina in Frankfurt und ist nun bis zum 16. Oktober in der Universitätsbibliothek in Toruń zu sehen.
Hier nun eine schmale Auswahl der neu entstandenen Bilder. Kaliningrad ist karg, arm. In der von einer europäischen Außengrenze umzäunten russischen Exklave sind die verheerenden Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs noch immer deutlich sichtbar. Noch mehr als anderswo hat der deutsche Rassewahn in Osteuropa gewütet. Königsberg/Kaliningrad lag im »Planquadrat des totalen Krieges«1 (Karl Schlögel). Und Königsberg is dead. Im so betitelten Film von Max & Gilbert aus dem Jahr 2004 ist es der 1928 in Königsberg geborene Musiker Michael Wieck, der dies feststellt. Als Resultat des Zweiten Weltkriegs wurde auf den Trümmern der deutschen Stadt Königsberg das russische Kaliningrad errichtet. Als Provisorium. Die noch nicht geflüchtete deutsche Bevölkerung wurde umgesiedelt, Ostpreußen, Verkörperung des deutschen Faschismus, wurde sowjetisch. Wie sollte jemand, der von oder über Kaliningrad spricht, es vermeiden können, über Identität bzw. die Suche danach, zu sprechen?
Ein einziges Bild war auch schon in der Ausstellung im vergangenen November zu sehen. Ulrike Schmiegelt hatte es damals so beschrieben:
Auf dem Fenster, durch das der Fotograf in die Landschaft blickte, stand die Weisung ›Ne prislonjatsja‹ – ›Nicht anlehnen‹. Auf dem Foto zieht sich die Schrift wie eine Vision quer über den Himmel. Damit scheint das Bild die Replik auf eine Arbeit des großen Moskauer Konzeptkünstlers Erik Bulatov zu sein. […] Bulatov, der die Kombination von Wort und Schrift zu seinem künstlerischen Prinzip entwickelte, um die Lügen der sowjetischen Propaganda zu entlarven, hat 1987 ein Bild gemalt, bei dem vor einer ›blühenden Landschaft‹ – einer grünen Wiese und einem herbstlich goldenen Birkenwald unter blauem Himmel eben dieser Schriftzug prangt. In Rußland ist diese Mahnung bis heute an jeder Zugtür zu lesen. Er war dem sowjetischen Betrachter also so vertraut wie jeder andere Alltagsgegenstand. Vor der Landschaft Bulatovs wird das Gebot ›Ne prislonjatsja‹ verräterisch, dem Betrachter wird bewußt, daß das Verbot des Sich-Anlehnens auch als Warnung zu verstehen ist: Man soll sich nicht auf die Festigkeit der Tür respektive des Fensters verlassen. Und auf unser Bild übertragen bedeutet dies: der Betrachter soll sich nicht auf die Wahrhaftigkeit des Abgebildeten verlassen, er soll buchstäblich seinen Augen nicht trauen.
Das Foto […] erlaubt, die Assoziationskette noch weiter zu führen. Angesichts der Trostlosigkeit vor dem Zugfenster wäre mancher ja vielleicht ganz froh, daß er seinen Augen nicht zu trauen braucht, daß er aufgefordert wird, das Gesehene kritisch zu befragen. Doch die einzelnen Buchstaben des Schriftzugs sind so sehr beschädigt, dass nur der kundige Betrachter die beiden Worte erkennen kann. Der in Auflösung befindliche Schriftzug verstärkt zunächst die Melancholie der Landschaft. Im Sinne Bulatovs weitergedacht bedeutet aber die Auflösung der Worte auch, dass jetzt selbst die Aufforderung zu einer kritischen Sicht in Frage gestellt wird – nicht einmal die altvertrauten Anweisungen und Warnungen scheinen in der neuen Realität mehr von Dauer zu sein, nicht nur die Propaganda, sondern alles Sehen wird damit für unzuverlässig erklärt. Damit ist […] ein eindrucksvolles Bild gelungen, eine Metapher der brüchigen Lebenswelt zumal der russischen Gesellschaft mit ihren krassen sozialen Gegensätzen und dem nahezu unerträglichen Zusammenprall einer vermeintlich glorreichen Vergangenheit mit einer häufig schäbigen Gegenwart. Eine Metapher vielleicht auch für die Erfahrungen der deutschen Touristen, die in Kaliningrad nach dem Königsberg ihrer Kindheit (oder nach der Heimat ihrer Eltern) suchen und es nur noch in letzten Spuren finden können, die kein verlässliches Bild mehr ergeben.
Nein, zum Anlehnen eignet sich das Kaliningrader Gebiet wirklich nicht. Doch es hat mir Bilder zu machen ermöglicht, die ich sonst wohl nirgends hätte machen können; die tiefen Narben – die im Westen längst von der plastischen Chirurgie unsichtbar gemacht wurden – bergen in ihrer oberflächlichen Häßlichkeit eine eigentümliche Schönheit. Sie sind die verzerrenden Spiegel, die – nach Carl Einsteins Bebuquin – »mehr zu Betrachtungen anregen als die Worte von fünfzehn Professoren«2.
Meine Beschäftigung mit Osteuropa hat gerade erst begonnen.
Ich war auch in Kaliningrad letztes Jahr; auf meiner Seite gibt es ein Bild, ich möchte noch mehr daraufmachen…