Richard Scheibe – Staatsbildhauer

Deutsche Freiheit oder die unheimliche Koketterie des Schweigsamen

von Arndt Beck

Richard Scheibe, Hoheitszeichen, 1939

Denkmal

Im deutschen Mann verbergen sich viele deutsche Männer. Kleine, mittlere und große deutsche Männer. Jeder deutsche Mann ist von einem Mantel aus dem nächstgrößeren deutschen Mann umgeben. Zieht man einem deutschen Mann die Haut ab, kommt stets ein deutscher Mann zum Vorschein. Jeder große deutsche Mann hält das Gemurmel der mittleren deutschen Männer in seinem Bauch für seine Seele. Jeder mittlere deutsche Mann verwechselt Geräuschlosigkeit mit Frieden. Deshalb werden die kleinen deutschen Männer schon von Kindesbeinen an zur Ruhe angehalten. So kommt es, daß der deutsche Mann als Ganzes meist unbeweglich dasteht.

Thomas Bergmann1

„Richard Scheibe, der große deutsche Bildhauer, der dem deutschen Volk die heroischen Mahnmale seiner Weltkriegskämpfer geschenkt hat und der allem Bombenterror zum Trotz in Berlin aushält und weiterschafft“, liest man am 14. April 1945 im Völkischen Beobachter, „wendet sich mit folgenden Worten in dieser Stunde der höchsten Bewährung als deutscher Künstler und Mensch an das deutsche Volk: ‚Ich fühle mich verpflichtet, als Deutscher mich in dieser Stunde ausdrücklich zu meinem Vaterland und seinem Kampf zu bekennen. Ich bleibe an meinem Platz und schaffe, was in meinen Kräften steht. Ich glaube, daß die deutsche Kunst von neuem emporwachsen wird und daß sie allen Verfolgungen zum Trotz weiterleben und daß sie bleiben wird, was sie seit Jahrhunderten gewesen ist, die Kulturträgerin des Abendlandes.’“2

Der 1879 in Chemnitz geborene Sohn eines Offiziers wendet sich etwa 1906 der Bildhauerei zu. Nachdem er im Ersten Weltkrieg als Leutnant der Reserve „vier Jahre an der Front“3 ‚dient’, beginnt seine künstlerische Karriere eigentlich erst in der Weimarer Republik. 1923 erhält er den Auftrag, für die Gefallenen der IG-Farbenwerke in Höchst ein Ehrenmal zu errichten.

Richard Scheibe, Ehrenmal für IG-Farben AG, 1923
R. Scheibe, Ehrenmal für IG-Farben AG, 1923

Wenig später wird er als Professor ans Städelsche Kunstinstitut in Frankfurt am Main berufen. Aufgrund seines Denkmals für Friedrich Ebert an der Paulskirche entlassen ihn die ab 1933 herrschenden Nationalsozialisten, nach Intervention Albert Speers ist er aber bald wieder ‚in Amt und Würden’4.

Richard Scheibe, Denkmal für Friedrich Ebert, 1950
R. Scheibe, Denkmal für Friedrich Ebert, 1950 (1926)

1935 sieht der Versailler Vertrag eine Volksabstimmung über die Zugehörigkeit des unter Verwaltung des Völkerbundes stehenden Saargebietes vor. Mit über 90% Zustimmung der Bevölkerung für die Rückgliederung zum Deutschen, heim ins jetzt Dritte Reich, verschafft diese – zum Testfall der Popularität der nationalsozialistischen Diktatur erklärte Abstimmung – Hitler einen großen Prestigegewinn, und er befiehlt wenig später die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht. Dieser Coup wächst sich zum Triumph aus, als die ausländischen Regierungen nur mit verhaltenem Protest, große Teile der eigenen Bevölkerung aber mit Begeisterung reagieren. Scheibe gestaltet – erneut im Auftrag der IG-Farben – das Denkmal Die befreite Saar.

Richard Scheibe, Die befreite Saar, 1936
R. Scheibe, Die befreite Saar, 1936

Laut Bruno Kroll kennt 1939 „jeder Deutsche […] das Standbild dieser hoheitsvollen Frau.“ Sie sei „zum geistigen Besitz aller Deutschen geworden: diese Frau im langen, geschichtslosen Gewand, die geborstenen Ketten an den Armen, so groß, so erhaben im Ausdruck!“5 „Deutsche Befreiung ist gemeint“, weiß auch Kurt Lothar Tank, „und sie bedeutet mehr als Darstellung eines Sieges.“6 Und Werner Rittich sieht in dem Werk „ein überzeitliches Symbol nicht nur des Schicksals, das ein Teil unseres Volkstums in unserer Zeit ertrug, und des Gefühls, das uns im Augenblick seiner Befreiung erfüllte, sondern das Symbol der völkischen Freiheit überhaupt.“7

Die Bildhauer Richard Scheibe, Fritz Klimsch und Georg Kolbe gelten im Nationalsozialismus als „Propheten neuen deutschen Menschentums“, denen man „die Rettung der starken deutschen Form über eine Zeit des Verfalls“ verdankt, als „Künstlerpersönlichkeiten […], die ‚die Brücke von einer großen bildhauerischen Tradition zu einer neuen großen Stilepoche der deutsche Plastik zu bilden berufen waren.’“8 Die nackte Gestalt als bürgerliches Standardmotiv bringen sie als Mitgift in den Faschismus ein. Die staatliche Liquidierung der Moderne katapultiert sie – schlagartig – an die vordere Front des nationalen Kunstmarkts.

Als Nachfolger von Fritz Klimsch wird Scheibe zur Leitung eines Meisterateliers von Reichsminister Bernhard Rust nach Berlin geholt. Zwischen 1933 und 1937 treten Künstler wie Heinrich und Thomas Mann, Arnold Schönberg, Max Liebermann, Otto Dix, Ernst Ludwig Kirchner, Käthe Kollwitz und Ernst Barlach – um nur einige zu nennen – aus der Preußischen Akademie der Künste aus oder werden ausgetreten. Scheibe wird 1937 – gemeinsam mit u.a. Arno Breker, Josef Thorak und Albert Speer – Mitglied dieser ‚gesäuberten’ Institution. Bei der „Heerschau deutscher Kunst“9, der Großen Deutschen Kunstausstellung in München, ist er – mit einer Ausnahme – Jahr für Jahr vertreten. 1938 kauft Adolf Hitler dort einen seiner Denker für 10.000 Reichsmark.

Richard Scheibe, Denker, 1937
R. Scheibe, Denker, 1937

„Die deutschen Künstler wollen grundsätzlich das offenkundig Minderwertige und Angekränkelte nicht mehr zum Gegenstand bildnerischer Wiedergabe machen“, heißt es 1941. „Sie entsagen bewußt dem Gesuchten und Überspitzten, dem intellektuell Zerfaserten und gefühlig Aufgeschwemmten, dem Frechen und haltlos Verlotterten, dem Artfremden und Zersetzenden. […] Diese ausgesprochen ethische Haltung des neuen deutschen Kunstwollens ist nun keineswegs zu verwechseln mit aufdringlicher Moralität – davor schützt die frische männliche Luft der neuen deutschen Wirklichkeit.“ Im Gegenteil, die Künstler „machen keinen Hehl aus ihrem Wohlgefallen an den Prachtmädels und Prachtburschen“, den Zuchtstuten und -hengsten, „bei denen die Trieb- und Begabungsgrundlagen offenkundig intakt sind.“10

1944 erhält Scheibe zu seinem 65. Geburtstag die Goethemedaille. Das mit wehenden Fahnen seinem Ende entgegenschreitende Dritte Reich verleiht ihm in Person von Joseph Goebbels im Herbst desselben Jahres den Rang und die Privilegien eines Künstlers im Kriegseinsatz. Zusammen mit u.a. seinem Freund Georg Kolbe ist sein letzter Dienst am Dritten Reich das eingangs zitierte, öffentliche Bekenntnis zum Vaterland.11

„Die Bomben verjagten ihn nicht aus seinem Atelier in der entleerten Berliner Akademie. Auch die Russen ließen ihn dort arbeiten“12, erinnert sich der Bildhauer Gerhard Marcks, und sein Kollege Waldemar Grzimek ergänzt: „Ein Major wohnte im Haus, drei Bildhauer aus Leningrad arbeiten an der Figur für das sowjetische Ehrenmal am Brandenburger Tor. Hin und wieder wird der ratlose Kolbe als Gutachter geholt, und Scheibe soll den Entwurf für ein anderes Denkmal machen. Scheibe liefert diesen Entwurf nicht, aber Kolbe und er erhalten Lebensmittel und werden auf eine Liste bevorzugter Personen gesetzt.“13

„Wir fangen vollständig neu an. Es darf nicht die allergeringste Verbindung zur alten Zeit bestehen“14, so der programmatische Ausspruch des ersten Direktors der neugegründeten Hochschule für bildende Künste, dem Maler Karl Hofer, auf der ersten Lehrerversammlung am 28. Juni 1945. Und die Gründungserklärung der Schule besagt: „Wir brauchen für die Erziehung unserer Jugend neue Fundamente, eine klare und bewußte Zielsetzung. Die Kunst ist nicht nur Mittel des Genusses, sie ist ein Instrument, eine Waffe im Kampf, im Aufbau ein Stein, der Gemeinschaft eine vielseitige Hilfe. Lehrkräfte, die am Aufbau unserer Schule mitarbeiten, müssen von dieser Aufgabe durchdrungen sein.“15

Scheibe entspricht offenbar dem Anforderungsprofil, erhält eine Professur und ist an den aufkeimenden Ausstellungsaktivitäten der Berliner Kunstszene beteiligt. Die ideologischen Widersprüche der politischen Systeme verschärfen sich jedoch bald. „So bedeutet die Kunst Richard Scheibes nicht nur einen Meilenstein in der Geschichte des bildnerischen Schaffens schlechthin“, resümiert beispielsweise die ostdeutsche Kunsthistorikerin Magdalena George 1961, „sie ist wegen ihres humanistischen Ideengehaltes und der universellen Beherrschung der künstlerischen Form vor allem wichtig als Anknüpfungspunkt der gegenstandsgebundenen Plastik der Gegenwart auch in der Deutschen Demokratischen Republik.“ Zuvor bemüht sie sich redlich, Scheibe zu entnazifizieren. An dem Knieenden Krieger, dem Gefallenenehrenmal für die Gemeinden Höchst und Nied aus dem Jahre 1937,

Richard Scheibe, Knieender Krieger, 1937
R. Scheibe, Knieender Krieger, 1937

vermeint sie sofort zu erkennen, „daß der Künstler nicht hinter diesem Auftrag stand, daß das Pathos dieser überlebensgroßen Figur unecht und die Form unbelebt“16 sei. Das Symbol für die Bereitschaft der Luftwaffe

Richard Scheibe, Symbol für die Bereitschaft der Luftwaffe, 1937
R. Scheibe, Symbol für die Bereitschaft der Luftwaffe, 1937

verniedlicht sie zum einfachen Bogenschützen, und das sogenannte Hoheitszeichen, ein Adler mit Hakenkreuz von 5,6 Metern Spannweite, verschweigt sie in ihrer umfassenden Betrachtung lieber …

Richard Scheibe, Hoheitszeichen, 1939
R. Scheibe, Hoheitszeichen, 1939

Mit solchen Nebensächlichkeiten beschäftigt man sich im Westen erst gar nicht. Edwin Redslob, der erste Rektor der Freien Universität, spricht Scheibe und sein Werk heilig und erteilt dem deutschen Volk hernach die Generalabsolution: „Um die Gestalten Scheibes weht ein Hauch der Einsamkeit, es ist, als stünden sie außerhalb unserer Welt, an deren Bösem sie keinen Anteil haben. Daß diese Abkehr von allem, was körperlich und seelisch häßlich ist, in einer Zeit denkbar war, in der so unsagbar viel Brutalstes geschah, erscheint wie ein Geschenk der Gnade. Es rechtfertigt eine ganze Generation vor dem Richterstuhl der Geschichte.“17 Amen.

Im Westen gilt es, vornehmlich in der Abstraktion, Anschluß an den internationalen Kunstmarkt zu gewinnen. „Nicht zu den abstrahierenden Avantgardisten zu gehören“, ereifert sich der bereits erwähnte Gerhard Marcks, „war nun beinah so verrufen, wie vorher bei den Nazis zu den ‚Entarteten’ zu gehören.“18 Es sei hier nur – als ein Beispiel unter vielen – an den Maler, Bildhauer und Graphiker Otto Freundlich erinnert, der aufgrund seiner ‚Entartung’ im KZ Maidanek ermordet wurde. Die staatliche Verfolgung Scheibes in der jungen Bundesrepublik sieht anders aus: 1950 Ehrendoktor der Freien Universität Berlin, 1951 Bundesverdienstkreuz, 1954 Goetheplakette der Stadt Frankfurt am Main und Halskreuz des Großen Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, 1959 Ehrensenator der Hochschule für bildende Künste Berlin und Ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste München …19

Der Westberliner Senat beauftragt Scheibe 1952 mit einem Ehrenmal für die Opfer des 20. Juli 1944. Ausgerechnet jener, vornehmlich militärisch-elitäre Widerstand um den Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf von Stauffenberg, dessen Protagonisten so lange Seit an Seit mit ihrem Obersten Feldherrn schritten. Der Schriftsteller Friedrich Reck-Malleczewen notierte seinerzeit, einen Tag nach dem gescheiterten Anschlag, in sein Tagebuch: „Das Attentat also auf Herrn Hitler. Exekutiert durch einen Grafen Stauffenberg […] Dahinter: ein Putsch der Generäle, lange erwartet. Ah, wirklich also? Ein wenig spät, Ihr Herren, die Ihr diesen Erzzerstörer Deutschlands gemacht habt, die Ihr ihm nachliefet, solange alles gut zu gehen schien, die Ihr, alle Offiziere der Monarchie, unbedenklich jeden von Euch gerade verlangten Treueid schworet, die Ihr Euch zu armseligen Mamelucken des mit hunderttausend Morden, mit dem Jammer und dem Fluch der Welt belasteten Verbrechers erniedrigt habt und ihn jetzt verratet, wie Ihr vorgestern die Monarchie und gestern die Republik verraten habt. […] Kokotten jeder Euch just passenden politischen Konjunktur, Renegaten Eurer Vergangenheit, traurige Beischläfer dieser industriellen Oligarchie, mit deren Machtanspruch die Zersetzung unserer gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen begann, armselige Planer dieses mißglückten, im Auftrage von Krupp und Genossen in Rußland veranstalteten Einbruchdiebstahls, dessen Planung selbst ein Maximum darstellt an politischem Dilettantismus und geopolitischer Unbildung …
[…] Sie deckten durch die Jahre jeden Verrat, jede Mord- und Schändungsorgie, sie deckten sie, weil dieser Hitler sie wieder zu Exponenten dieses preußisch mißbrauchten Deutschlands machte, sie standen, bewaffnete Schreier, bei jeder seiner Schurkenstreiche, sie pfiffen auf das Elend all der Bombenopfer, der Häftlinge in den Konzentrationslagern und der Geistesverfolgung, sie pfiffen auf Deutschland und seinen Geist, weil jede Änderung des Regimes ein Ende ihrer Macht bedeutet hätte. Und sie verraten jetzt, wo der Bankrott nicht mehr verheimlicht werden kann, die pleite gehende Firma, um sich ein politisches Alibi zu schaffen … sie, die als platteste Machiavellisten noch alles verraten haben, was ihren Machtanspruch belastete. Das Land trauert um den Mißerfolg dieser Bombe, und ich kann es unmöglich zum Ausdruck bringen, in welchem Maße diese allgemeine Landestrauer auch die meine ist. Die Generale aber? Man soll sie, wenn man Deutschland von der preußischen Häresie befreit, vernichten. Zusammen mit den industriellen Anstiftern dieses Krieges, zusammen mit seinen journalistischen Barden […] und nicht zuletzt mit all dem Klüngel, der für das ungeheuerliche Verbrechen des 30. Januar 1933 verantwortlich ist. Diese aber sollen zwanzig Fuß höher hängen als die übrigen. Mögen die Lebendbleibenden ihr Leben vom Verkaufen von Zündhölzern und Altpapier fristen …
Als Karikaturen ihrer gestohlenen Macht, als Anstifter unermeßlichen Elends.“20

„Am 2. August 1934“, stellt auch der Publizist Bernt Engelmann klar, „als die späteren Teilnehmer an der Offiziersrevolte vom 20. Juli 1944, in voller Kenntnis der Existenz der Konzentrationslager, des Gestapo-Terrors, der Judenverfolgungen, erst recht der von der Reichswehr unterstützten Massenmorde vom 30. Juni und 1. Juli 1934, Adolf Hitler Gehorsam und Treue bis in den Tod schworen, leisteten schon Hunderttausende von Deutschen im Untergrund oder vom Exil aus unter ständiger Lebensgefahr dem Faschismus aktiven Widerstand, verweigerten mehr als 7 Millionen Männer und Frauen dem blutbefleckten Diktator zumindest die Zustimmung zu seiner Gewaltherrschaft.“21

Stauffenberg, zum Beispiel, braucht sehr lange, bis er sich gegen Hitler wendet. Noch bei dem Überfall auf Polen will es so gar nicht nach dem ‚Aufstand des Gewissens’ klingen, wenn er an seine Frau schreibt: „Die Bevölkerung ist ein unglaublicher Pöbel, sehr viele Juden und sehr viel Mischvolk. Ein Volk, welches sich sicher nur unter der Knute wohlfühlt. Die Tausenden von Gefangenen werden unserer Landwirtschaft recht gut tun. In Deutschland sind sie sicher gut zu brauchen, arbeitsam, willig und genügsam.“ Auch später lebt er noch „wie der Herrgott in Frankreich.“22 Erst die absehbare militärische Niederlage eint zumindest einige der Offiziere zu ernsthaftem Handeln, doch das ist kaum mehr als politisches Kalkül. „Die paar Nicht-Nazis, Sozialdemokraten und Gewerkschafter, die sich ihnen angeschlossen hatten, ausgenommen“, schreibt der Publizist Hermann Gremliza, „starben die Teilnehmer dieses Nazi-Aufstandes gegen Hitler nicht so sehr für ein besseres Deutschland, als für ein – mit Hilfe des Westens und auf Kosten der Sowjetunion – größeres.“23

Ausgerechnet dieser Putschversuch sollte als Widerstand in der Bundesrepublik zur Keimzelle der Nachkriegsdemokratie verklärt werden und mit dem Ehrenmal im Bendlerblock – dort, wo Stauffenberg und drei seiner Mitverschwörer noch in der Nacht zum 21. Juli hingerichtet wurden – seine zentrale Würdigung erfahren. „Da eine Gestaltung des Denkmals im modernen Stil bei den Hinterbliebenen der Opfer, meist ehemalige Offiziere und Beamte“, Staatsdiener des Dritten Reiches, möchte man Scheibes eigene Worte ergänzen, „wohl Verdruß erregt hätte, mußte man damit noch einmal auf mich zurückgreifen und so habe ich denn für meine Lösung der Aufgabe manche mir werte Zustimmung, auch von den Berliner Senatoren erfahren. Es ist nicht so, daß ich mit meiner Kunstanschauung ganz allein dastehe.“24

Richard Scheibe, Ehrenmal für die Opfer des 20. Juli 1944, 1952
R. Scheibe, Ehrenmal für die Opfer des 20. Juli 1944, 1952

Nein, allein steht er nicht da, wenn auch nicht mehr so unangefochten, wie einige Jahre zuvor. Der Denkmalauftrag gibt Scheibe noch einmal Gelegenheit, sich mit einem „Prachtburschen“ der aktuellen politischen Konjunktur anzudienen, ohne dabei dem „gesunden Empfinden“ seiner Stammklientel einen Wunsch offen zu lassen. „Scheibe“, so Edwin Redslob, „erfaßte in dieser Gestalt das Bleibende des heroisch-verzweifelten Widerstandes und seiner Bedeutung für die kommende Zeit.“25 Von Redslob stammt auch die Inschrift des Denkmals: IHR TRUGT DIE SCHANDE NICHT / IHR WEHRTET EUCH / IHR GABT DAS GROSSE EWIG WACHE ZEICHEN / DER UMKEHR / OPFERND EUER HEISSES LEBEN / FÜR FREIHEIT RECHT UND EHRE.

Die Denkmaleinweihung am 20. Juli 1953 – einen Monat nach dem Arbeiteraufstand in der DDR – ist eine günstige Gelegenheit, die ‚gefallenen Helden’ als ‚kalte Krieger’ auferstehen zu lassen. Denn „im Zuge der Konstituierung der Bundesrepublik“, schreibt der Historiker Kurt Finker, „mit ihren 21 NS-Ministern und -staatssekretären, 100 Nazigenerälen und -admiralen, 245 braunen Diplomaten, 828 belasteten hohen Justizbeamten […] und ihrer Einbeziehung in das westliche Bündnis bedurfte dieser Staat auch einer Antihitlerlegitimation, die zugleich militant antikommunistisch zu sein hatte.“26 „Der Wille des 20. Juli war der gleiche wie der des Juni-Aufstandes“, zerrt der abwesende Herr Kaiser die ideologisch benötigte, absurde Behauptung einer Homogenität beider Ereignisse an den Haaren herbei. Und der Regierende Bürgermeister des Westteils, Ernst Reuter, tut es dem Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen gleich: „Der Bogen vom 20. Juli spannt sich heute, ob wir wollen oder nicht, zu dem großen Tage des 17. Juni 1953, zu jenem Tag, an dem sich ein gepeinigtes und gemartertes Volk in Aufruhr gegen seine Unterdrücker und gegen seine Bedränger erhob und der Welt den festen Willen zeigte, daß wir Deutschen frei sein und als ein freies Volk unser Haupt zum Himmel erheben wollen.“ Und am Ende seiner Rede prophezeit er: „Einmal wird hier in Berlin ganz Deutschland versammelt sein, und das ganze Deutschland wird diese Stätte als nationales Heiligtum von uns übernehmen.“27

Mit der bewußten Vermischung beider Ereignisse wird hier ein Cocktail angerührt, dessen Genuß der kollektiven Amnesie in der jungen Bundesrepublik erheblich Vorschub leistet. Scheibes Denkmal ist schon bei seiner Einweihung Anti-Totalitarismus- und nicht Anti-Hitler-Monument, nützlich als Propaganda-Instrument des Kalten Krieges sowie zur Relativierung der eigenen Verbrechen. „Wer jetzt den 20. Juli 1944 und den 17. Juni 1953 als ‚antitotalitäre’ Aufstände laut genug pries“, so erneut Kurt Finker, „wurde nicht mehr nach seiner Tätigkeit in den Jahren 1933 bis 1945 gefragt.“28

„Die faschistische Schuld“, erläutert der Medienwissenschaftler Georg Seeßlen, „wurde weder geleugnet noch akzeptiert; sie wurde vielmehr in den Zustand der ‚Unleserlichkeit’ versetzt, ein Sowohl-als-auch und Von-Fall-zu-Fall, das alle erdenklichen Komplizenschaften möglich machte und den einzelnen in die Lage versetzte, sich aus den Angeboten ein postfaschistisches Weltbild zu basteln, das sich gut und gerne in seine öffentlichen und privaten Bestandteile zerlegen ließ. So entstand die zweite Schuld. Auf die Verbrechen folgte die Unfähigkeit, ihnen gerecht zu werden.“29 Oder, um es mit dem Schriftsteller Ronald M. Schernikau zu sagen: „die bundesrepublik deutschland hat einen einzigen satz hervorgebracht. der satz ist in einem maße genial, daß aller protest zum gemeckere wird, alle beschimpfung zum lob. es ist der satz eines faschisten, der dann nicht mehr als faschist arbeitete, und der dazu gebracht werden sollte, sich zum faschismus zu äußern. dieser mann sprach einen einzigen satz, und als er diesen satz gesprochen hatte, war klar, daß es niemals eine erwiderung geben würde, keine antwort, keine selbe welt. der satz lautete: ich erinnere mich nicht.“30

Nekrolog

Eines der letzten Werke Scheibes steht wieder im Zeichen der Freiheit, diesmal der us-amerikanischen: eine Gedenktafel am Schöneberger Rathaus erinnert an den Besuch und die Ermordung von John F. Kennedy.

Richard Scheibe, Gedenktafel für John F. Kennedy, 1964
R. Scheibe, Gedenktafel für John F. Kennedy, 1964

Scheibe stirbt – 85jährig am 6. Oktober 1964 –, noch ehe die Berliner Studenten den Muff unter seinem Kittel zu riechen beginnen. Eine Woche später wird er auf dem Schmargendorfer Friedhof neben Max Pechstein beerdigt. Dieser ‚Entartete’ hatte den ihm 1937 nahegelegten freiwilligen Austritt aus der Preußischen Akademie der Künste erfolglos zu kontern versucht: „Ich, sowie meine Frau sind nachgewiesenermaßen Vollarier, mein ältester Sohn ist S.A.-Mann, mein jüngster Sohn bereits im 2. Jahre im Jungvolk, und außerdem bin ich selbst seit 1934 Mitglied der N.S.V. und Mitglied des N.S. Luftsportverbandes.“31 Berliner Ehrengräber. Doch damit nicht genug: Auf dem von Gerhard Marcks entworfenen Grabstein für Richard Scheibe steht nicht sein Geburtstag, der 19., sondern – eine Freudsche Fehlleistung? – der 20. April. Dieses Datum gereicht Scheibe – sollte er nicht vorher unter den Trümmern der kommenden Geschichte endgültig begraben, eingeebnet und vergessen werden – tatsächlich für die nächsten tausend Jahre zur Ehre.

Grabstein von Richard Scheibe
Grabstein von R. Scheibe

Anmerkungen:

Geschrieben im Sommer 2004, leicht überarbeitet im Januar 2009. Wird mehrfach hintereinander aus derselben Quelle zitiert, folgt der Hinweis nach dem letzten Zitat.

außerdem benutzte Literatur:

Wolfgang Benz, Geschichte des Dritten Reiches, München 2000
Martin Damus, Der Kunstwissenschaftler: Die Vergegenständlichung bürgerlicher Wertvorstellungen in der Denkmalplastik. Das Denkmal zur Erinnerung an den 20. Juli 1944 von Richard Scheibe in Berlin – der nackte Jüngling als Symbolfigur für den Widerstand. in: Kunst und Unterricht, Sonderheft, Berlin (West) 1974
Gerd R. Ueberschär (Hg.), Der 20. Juli 1944, Köln 1994
Klaus Wolbert, Die Nackten und die Toten des „Dritten Reiches“, Gießen 1982

  1. Das Denkmal von Thomas Bergmann steht in: Klaus Wagenbach (Hg.), Jetzt schlägt`s 13, Berlin (West) 1977, S. 7f.
  2. Völkischer Beobachter, 14.4.1945 und Deutsche Allgemeine Zeitung, 6.4.1945
  3. laut Gerhard Marcks, in: Kunstamt Wedding (Hg.), Richard Scheibe zum 100. Geburtstag, Berlin (West) 1979
  4. dessen rühmt sich Albert Speer selbst in: derselbe, Spandauer Tagebücher, Frankfurt, Berlin, Wien 1975, S. 538
  5. Bruno Kroll, Richard Scheibe – Ein deutscher Bildhauer, Berlin 1939, S. 28
  6. Kurt Lothar Tank, Deutsche Plastik unserer Zeit, München 1942, S. 52
    Nach dem Ende des Dritten Reichs verfasste Tank eine frühe Grass-Biografie. Kurt Lothar Tank, Günter Grass, Berlin 1965
  7. in: Die Kunst im Deutschen Reich, Ausgabe A, Nr.5, München 1939, S. 140-147, Hervorhebung A.B.
    Die erneute Rückgliederung des Saarlandes 1957, nun zur Bundesrepublik, veranlaßt den Berliner Kurier zum Abdruck von Scheibes Figur, die nun – nach dem Zweiten Weltkrieg – in aller Regel Die Befreiung genannt wird (hier heißt sie Die Saar). Der Kurier, 31.12.1956, S. 11
  8. Kurt Lothar Tank, a.a.O., S. 24, 49 und 51, zuletzt zitiert Tank seinerseits Robert Scholz
  9. nach: Otto Thomae, Die Propaganda-Maschinerie: bildende Kunst und Öffentlichkeitsarbeit im Dritten Reich, Berlin (West) 1978, S. 26
  10. Fritz Alexander Kauffmann, Die neue deutsche Malerei, Berlin 1941, S. 26f. und 75, Hervorhebung (kursiv) im Original gesperrt
  11. Georg Kolbe: „Nur das lebendige Schöpfertum unseres Volkes kann die durch ruchlose Brutalität barbarischer Nationen zerstörten Schätze deutscher Kultur wieder zur Auferstehung bringen und sie kommenden Generationen wieder schenken. Für diese Aufgabe setze ich mein Leben und meine Kraft ein bis zum letzten. Heute gibt es nichts als Kampf, damit wir künftig in Freiheit schaffen können.“ Völkischer Beobachter, 14.4.1945 und Deutsche Allgemeine Zeitung, 6.4.1945
  12. in: Kunstamt Wedding (Hg.), a.a.O.
  13. Waldemar Grzimek, Deutsche Bildhauer des Zwanzigsten Jahrhunderts, München 1969, S. 94
  14. nach Christine Fischer-Defoy, in: Eckart Gillen, Diether Schmidt (Hg.), Zone 5 – Kunst in der Viersektorenstadt 1945-1951, Berlin (West) 1989, S. 142
  15. formuliert von Fritz Stabenau, nach Christine Fischer-Defoy, a.a.O., S. 139
  16. Magdalena George, Der Bildhauer Richard Scheibe, Dissertation, Leipzig 1961, S. 122 und 86
  17. Edwin Redslob, Richard Scheibe, Berlin (West) 1955, S. 20
  18. in: Kunstamt Wedding (Hg.), a.a.O.
  19. Gerhard Marcks sehr ähnlich: 1946 Professor an der Landeskunstschule Hamburg, 1947 Erhalt eines Atelierhauses auf Lebzeiten durch die Stadt Köln, 1949 Ehrenmitglied der Freien Akademie der Künste Hamburg, Stephan-Lochner-Medaille der Stadt Köln und Goetheplakette der Stadt Frankfurt am Main, 1950 Ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste München, 1952 Ritter des Ordens Pour le mérite, 1953 Kulturpreis der Stadt Wiesbaden, 1954 Großer Kunstpreis des Landes Nordrhein-Westfalen, 1955 Ordentliches Mitglied der Akademie der Künste Berlin und Berliner Kunstpreis, 1959 Großes Bundesverdienstkreuz, 1962 Ehrenmitglied der Nürnberger Akademie der Bildenden Künste, 1964 Großes Bundesverdienstkreuz mit Stern, 1979 Großes Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband, nach: Martina Rudloff (Hg.), Gerhard Marcks: 1889-1981, Retrospektive, München 1989, S. 384ff.
  20. „Ich kann nicht anders.“ So endet dieser Tagebucheintrag. Friedrich Reck ist in vielerlei Hinsicht eine Ausnahme. Bis August 1944 kann der von Standesdünkel keineswegs freie Sohn eines ostelbischen Gutsherrn als entschiedener Hitler-Gegner im Dritten Reich veröffentlichen – vor allem historische Romane, die camouflierte Gegenwartskritik sind. Am 9. August verfügt Goebbels jedoch einen Boykott über seine Schriften. Die Nichtbefolgung des Volkssturms und eine Denunziation bringen ihn ins Gefängnis und wenig später ins KZ Dachau. Dort stirbt er am 16. Februar 1945 an Fleckfieber. Sein Tagebuch wird postum (1946) veröffentlicht. Friedrich Percyval Reck-Malleczewen, Tagebuch eines Verzweifelten, Berlin, Bonn 1981, S. 159ff., zur Fußnote dort das Vorwort von Bernt Engelmann und: Hans Sarkowicz, Alf Mentzer, Literatur in Nazi-Deutschland, Hamburg, Wien 2000, S. 294ff.
  21. Bernt Engelmann, Einig gegen Recht und Freiheit, München, Gütersloh, Wien 1975, S. 343
  22. Claus Schenk Graf von Stauffenberg am 13./14.9.1939 aus Kozienice/Polen und am 27.5.1940 aus Frankreich an seine Frau, nach: Kurt Finker, Der 20. Juli 1944, Berlin 1994, S. 66f.
  23. in: Konkret 7/2004, S. 9 Hervorhebung A.B.
    Der Staatssekretär Otto Lenz unterstützt am 20.7.1953 Gremlizas Ansicht: „Es ist eine der furchtbarsten Hypotheken dieses Systems, gegen das sie gekämpft haben, daß heute noch 18 Millionen in der Sowjetzone ebenso um ihre Freiheit kämpfen müssen. Hätte dieser Tag, dessen Gedenken wir heute begehen, einen anderen Ausgang genommen, wäre es vielleicht möglich gewesen, auch das Geschick dieser 18 Millionen zu wenden, so daß sie heute nicht mehr um ihre Freiheit ringen und verzweifelt und traurig warten müssen, bis der Tag kommt, der sie mit uns wieder vereint.“ in: Senator für Sozialwesen und Presseamt des Senats von Berlin (Hg.), Ihr trugt die Schande nicht – Ihr wehrtet Euch, Berlin (West) 1953, S. 15
  24. Scheibe in einem Brief vom 20.8.1953, nach: Magdalena George, a.a.O., S. 114
  25. Edwin Redslob, a.a.O., S. 19
  26. in: junge Welt, 21.7.2004, S. 10/11
  27. Telegramm Jakob Kaisers, verlesen durch seinen Staatssekretär Otto Lenz, nach: Senator für Sozialwesen … (Hg.), a.a.O., S.14, dort auch Ernst Reuter, S. 10
  28. in: junge Welt, 21.7.2004, S. 10/11
  29. Georg Seeßlen, Tanz den Adolf Hitler – Faschismus in der populären Kultur, Berlin 1994, S. 31
  30. Ronald M. Schernikau, Die Tage in L., Hamburg 1989, S. 12
  31. Brief Pechsteins vom 12.7.1937 an die Akademie, nach: Hildegard Brenner, Ende einer bürgerlichen Kunst-Institution, Stuttgart 1972, S. 147, N.S.V. bedeutet Nationalsozialistische Volkswohlfahrt

8 Kommentare

  1. Recherchiere nur am Rande eines anderen Themas gerade zur Biografie einer Schülerin von Scheibe (Frankfurter Städel in den 30ern) und wollte nur kurz wissen wer Richard Scheibe war. Habe mir dann gerne die Zeit genommen mehr zu erfahren. Sehr informativ.

  2. Und noch eine Ergänzung:

    Die „Befreite Saar“ (Höhe 2,30 m) wurde vom I.G. Farben-Vorstandsmitglied Ludwig Hermann (1882-1938) beauftragt. Die Skulptur gefiel ihm so gut, daß er auch eine kleine Kopie zur Präsentation auf seinem Schreibtisch davon anfertigen ließ.

    Quelle: o. V.: „Eine Saar-Statue im Werk Höchst“, in: „Von Werk zu Werk“, Der Maingau 1936.

  3. Bei der Recherche für den Schulunterricht über Bildhauer des Dritten Reiches wollte ich wissen, wieweit Bildhauer wie Scheibe, Klimsch, Grauel, Hofmann in die NS-Ideologie verstrickt waren. Der Text über die …unheimliche Koketterie der Schweigsamen” ist grandios, wunderbar und auch erschütternd! Vielen Dank!
    Waldemar Krahl

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