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23. Februar:
Unterdessen ist noch immer unklar, wann wir aussagen werden. Wahrscheinlich wird ein Teil unserer Zeugen überhaupt nicht zu Wort kommen. In Kürze wird es sich zeigen. Falls ich nicht aussagen werde, wird es wenigstens nicht meine Schuld sein. Es würde mich in der Tat sehr verärgern, aber ich kann nichts daran ändern.
Heute habe ich einen Spaziergang durch Nürnberg gemacht. Halb zerstörte gotische und vorgotische Kirchen. Die Stadt ist voll von Mittelalter. Überall alte Schlösser und Festungen.
Ich lese deutsche Zeitungen. Allenthalben diskutiert man über das ›Entnazifizierungsgesetz Nr. 8‹. Das heißt, die Entlassung ehemaliger Nazis aus den Unternehmen. So ist zum Beispiel der Leiter der Berliner Philharmoniker, der weltberühmte deutsche Dirigent Wilhelm Furtwängler, wegen der Zusammenarbeit mit Hitler entlassen worden. Die amerikanische Presse schreibt, dass in der Nürnberger Stadtverwaltung noch immer um die 1.000 ehemals aktive Nationalsozialisten arbeiten. Ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung verteidigt sich in der Zeitung Nürnberger Nachrichten, es seien nicht 1.000, sondern nur 900. Die Deutschen sind jetzt in viele Kategorien eingeteilt. Nationalsozialisten und Militaristen werden entlassen und zum Teil inhaftiert. Dafür geht man mit den ›Mitläufern‹ nachsichtiger um. Sie haben sogar das Recht, den Parteien beizutreten. Auch Jugendliche werden gesondert betrachtet. An jeder Organisation, jedem Klub und jedem Vorhaben müssen sieben ausgewiesene Antifaschisten beteiligt sein. Und bei jeder Sitzung müssen wenigstens fünf von ihnen anwesend sein.
Mit unseren Zeugenaussagen wird es immer komplizierter. Wie ich gerade erfahren habe, werden wohl nur vier Personen als Zeugen auftreten (zusätzlich zu Orbeli, der ja schon ausgesagt hat). Wer sind die vier? Werde ich dazu gehören? Das weiß nur Gott allein.