27. Februar

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***

Nürnberg. Vor dem Tribunal. 11:45 Uhr vormittags. Mittwoch, den 27. Februar 1946:

Gerade habe ich meine Zeugenaussage vor dem Nürnberger Tribunal beendet. Auf meinen Lippen glühen noch die Worte, die ich vor der ganzen Welt und den kommenden Generationen herausschrie. Ich bin zutiefst erschüttert. Es ist ohne Zweifel die eindringlichste Erfahrung meines bisherigen Lebens.

Ich habe (zusammen mit den Fragen des Vertreters der Anklage, Oberst Smirnov) 38 Minuten gesprochen.

Offenbar hat mir die Vorsehung das Russische direkt in den Mund gelegt. Ich war mir nicht sicher gewesen, ob ich in dieser Sprache meine Gedanken und Gefühle würde ausdrücken können.

Es fällt mir schwer, meine Gefühle abzuwägen. Welches von ihnen ist stärker, das Gefühl der Trauer oder das Gefühl der Rache? Stärker als diese beiden, scheint mir, ist das aufstrahlende, mächtige Gefühl, dass unser Volk lebt, seine Henker überlebt hat — und keine noch so dunkle Macht imstande ist, es zu vernichten. Darin liegt etwas Jüdisch-schicksalhaftes: ein jiddischer Dichter — vielleicht der einzige Übriggebliebene aus den europäischen Ghettos — kommt nach Nürnberg, um die Rosenbergs und Franks zu richten. Und dadurch ebenfalls ihre noch übriggebliebenen ›Gesinnungsgenossen‹ in diversen Ländern!

Oberst Smirnov, der sowjetische Vertreter der Anklage, mein Vernehmer, hat noch zuvor mit mir über die große Verantwortung meines Auftritts vor Gericht gesprochen. »Sie sind der erste jüdische Zeuge«, sagte Smirnov, »sie müssen im Namen von Millionen Vernichteter sprechen. Sie müssen der Welt erzählen, wie der deutsche Faschismus ihre Brüder abgeschlachtet hat.«

Diese große Verantwortung füllte jeden Winkel meines Bewusstseins aus. In den zwei Nächten vor meinem Auftritt konnte ich kein Auge zutun. Vor mir sah ich meine Mutter, die nackt über ein schneebedecktes Feld lief — und das warme Blut, welches aus ihrem durchschossenen Herzen floss, begann über den Boden meines Zimmers zu rinnen und mich wie ein Ring zu umschließen.

Es wurde festgelegt, dass ich auf Russisch reden müsse (die vier offiziellen Sprachen bei Gericht sind: Englisch, Russisch, Französisch, Deutsch). Ich beherrsche das Russische nicht so gut, dass ich in dieser Sprache jede Regung meiner Seele präzise wiedergeben könnte. Ich betete zum Gebieter der Sprache, er möge mir zur Hilfe kommen.

Als der Marshal (so nennt man den amerikanischen Militärangehörigen, der die Zeugen hereinführt) mich in den Gerichtssaal geleitete und ich rechts von mir, etwa drei Meter entfernt, den Käfig mit den Teufeln sah, fiel die Furcht von mir ab und ich spürte, dass ich hier ihr Ankläger und ich der Sieger bin.

Nachdem der Vorsitzende des Gerichts, Lord Lawrence, meinen Eid abgenommen hatte, begann der Vertreter der Anklage Smirnov mich zu befragen.
Zweimal leistete ich der Aufforderung des Marshals, mich hinzusetzen, wie es eigentlich üblich ist, keine Folge und sprach stehend, als sagte ich das Kaddisch für die Toten.

Ich habe nur über Vilna gesprochen. Über das, was ich selbst gesehen und erlebt habe.

Ich sprach über das deutsche System der Vernichtung, welches im Vorfeld genau geplant war. Ich berichtete von den Häschern, die für jeden ergriffenen Juden zehn Rubel vom Sonderkommando bekamen. Ich berichtete über das Massenpogrom in der Nowogródzka und davon, wie die Deutschen mich zwangen, nackt und mit einer Thorarolle in den Armen um ein Feuer zu tanzen. Ich berichtete davon, wie der Gelehrte Noyekh Prilutski, der ehemalige Vorsitzende der Vilnaer Gemeinde, Dr. Yankev Vigodski, der YIVO-Mitarbeiter Pinchas Kon und die jiddischen Künstler Moris Liampe, Khash und Kadish umgebracht wurden; ich berichtete davon, wie ich einen Pantoffel meiner erschossenen Mutter erkannte, und wie mein gerade geborener Sohn im Ghetto-Krankenhaus getötet wurde. Ich berichtete: Schweinberger hat während eines Pogroms im zweiten Ghetto seinen Hund erschossen und den Juden befohlen, den Hund zu begraben und an dem Grab zu weinen. Ja, sagte ich, wir haben dann tatsächlich geweint, dass der Hund unter der Erde liegt und nicht Schweinberger. Dabei zeigte ich auf die Bande der jetzt gefangenen und angeklagten Schweinbergers.

Die Korrespondenten haben sich diesen Satz merklich notiert — und alle Blicke fixierten die Verbrecher.

Zum Schluss las ich die ersten Zeilen eines Dokuments vor, das sich auf den Handel mit der Kleidung der ermordeten Juden bezog und das ich bei der Befreiung Vilnas im Büro des Gebietskommissars Hans Hingst gefunden hatte. Sie lauten:

»Wilna. Rohstoffzentrale. 3. November 1941. An Herrn Gebietskommissar in Wilna. Auf Ihren Befehl desinfiziert zu dieser Zeit unsere Anstalt die alten jüdischen Kleider aus Ponar und übergibt sie der Wilnaer Verwaltung.«

Auf Verlangen von Lord Lawrence habe ich das Dokument ein zweites Mal vorgelesen und es dem Gericht übergeben.Gerichtsmitarbeiter sowie Journalisten sagen mir, dass ich anschaulich, überzeugend und sicher geredet habe.

Streicher, von dessen ausländischem Vermögen ihm nur ein Streifen Kaugummi geblieben ist, den ihm die Amerikaner zuwarfen — keuchte wie ein grüner Frosch in meine Richtung. Frank nahm zeitweise seine dunkle Brille ab und musterte mich mit seinen blutunterlaufenen Augen, als würde er dabei denken: Wart nur, wart nur, dich kriege ich schon noch. Alfred Rosenberg, der Plünderer der jüdischen Kulturschätze, notierte nervös etwas in seinen Unterlagen; und Hitlers Stellvertreter, Kaltenbrunner, der, wie sein Verteidiger sagt, ›für humanitäre Verhältnisse in den Konzentrationslagern gekämpft hatte‹, beugte sich über die Balustrade, als wolle er seine Untergebenen dafür bestrafen, dass sie mich nicht in den Kalkofen geworfen hatten.

Der sowjetische Ankläger Lev Sejnin schüttelte mir die Hand und sagte, dass es sehr gut gewesen sei. Das gleiche sagte der Staatsanwalt Zorja. Starken Eindruck machte, dass ich das deutsche Dokument zu den jüdischen Kleidungsstücken aus Ponar vorlas; und dass das Tribunal das Dokument angenommen hat — sagten mir die Vertreter der Anklage Zorja und Raginskij — sei ein großer Erfolg. Es ist der erste Fall, dass ein Zeuge selbst ein Dokument vorlegte. Smirnov ist sehr zufrieden. »Auch Erenburg wird zufrieden sein«, sagte er mir.

Die Zeugenaussage Avrom Sutzkevers als Audio (in russischer Sprache).

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