23. Februar

  1. Vor 75 Jahren: Avrom Sutzkever in Deutschland
  2. 17. Februar 1946
  3. 18. Februar
  4. 19. Februar
  5. 20. Februar
  6. 21. Februar
  7. 22. Februar
  8. 23. Februar
  9. 24. Februar
  10. 25. Februar
  11. 26. Februar
  12. 27. Februar
  13. 1. März
  14. 6. März 1946

***

23. Februar:

Unterdessen ist noch immer unklar, wann wir aussagen werden. Wahrscheinlich wird ein Teil unserer Zeugen überhaupt nicht zu Wort kommen. In Kürze wird es sich zeigen. Falls ich nicht aussagen werde, wird es wenigstens nicht meine Schuld sein. Es würde mich in der Tat sehr verärgern, aber ich kann nichts daran ändern.

Heute habe ich einen Spaziergang durch Nürnberg gemacht. Halb zerstörte gotische und vorgotische Kirchen. Die Stadt ist voll von Mittelalter. Überall alte Schlösser und Festungen.

Ich lese deutsche Zeitungen. Allenthalben diskutiert man über das ›Entnazifizierungsgesetz Nr. 8‹. Das heißt, die Entlassung ehemaliger Nazis aus den Unternehmen. So ist zum Beispiel der Leiter der Berliner Philharmoniker, der weltberühmte deutsche Dirigent Wilhelm Furtwängler, wegen der Zusammenarbeit mit Hitler entlassen worden. Die amerikanische Presse schreibt, dass in der Nürnberger Stadtverwaltung noch immer um die 1.000 ehemals aktive Nationalsozialisten arbeiten. Ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung verteidigt sich in der Zeitung Nürnberger Nachrichten, es seien nicht 1.000, sondern nur 900. Die Deutschen sind jetzt in viele Kategorien eingeteilt. Nationalsozialisten und Militaristen werden entlassen und zum Teil inhaftiert. Dafür geht man mit den ›Mitläufern‹ nachsichtiger um. Sie haben sogar das Recht, den Parteien beizutreten. Auch Jugendliche werden gesondert betrachtet. An jeder Organisation, jedem Klub und jedem Vorhaben müssen sieben ausgewiesene Antifaschisten beteiligt sein. Und bei jeder Sitzung müssen wenigstens fünf von ihnen anwesend sein.

Mit unseren Zeugenaussagen wird es immer komplizierter. Wie ich gerade erfahren habe, werden wohl nur vier Personen als Zeugen auftreten (zusätzlich zu Orbeli, der ja schon ausgesagt hat). Wer sind die vier? Werde ich dazu gehören? Das weiß nur Gott allein.

22. Februar

  1. Vor 75 Jahren: Avrom Sutzkever in Deutschland
  2. 17. Februar 1946
  3. 18. Februar
  4. 19. Februar
  5. 20. Februar
  6. 21. Februar
  7. 22. Februar
  8. 23. Februar
  9. 24. Februar
  10. 25. Februar
  11. 26. Februar
  12. 27. Februar
  13. 1. März
  14. 6. März 1946

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Nürnberg, 22. Februar:

Rudenko ist schon informiert, dass ich auf Jiddisch aussagen will. Er wird sich wegen dieser Angelegenheit heute mit dem Hauptankläger Jackson besprechen. Falls es nur technisch irgend möglich ist, werde ich Jiddisch reden. Andere Hindernisse gibt es für mein Gefühl nicht. Tatsächlich ist es beim Prozess der erste Fall, bei dem auf Jiddisch ausgesagt werden soll. Ich bitte Gott, dass sich ein Übersetzer findet. Unterdessen mache ich mir Notizen anhand meiner mitgebrachten Materialien.

Je länger ich die Deutschen beobachte, ihre stumpfsinnigen, lakaisch-unterwürfigen Visagen — umso verständlicher wird mir, warum Hitler gerade hier ausgebrütet wurde. Genau betrachtet hat Hitler ihnen viel gegeben: er hat die Juden ermordet oder aus Deutschland vertrieben und ihr Vermögen riss sich die ›auserwählte Rasse‹ unter den Nagel; er hat Länder erobert und die Deutschen zum ›Herrenvolk‹ erklärt. Was brauchten sie mehr? Die Masse liebt es, geführt zu werden. Wozu selbst denken, wenn in Nürnberg oder Berlin ein Hitler sitzt, der es besser weiß und klüger ist als der Rest der Welt?

Interessant: Vor einem Monat gab es in Bayern Wahlen. Fast 90 Prozent der Stimmen bekamen die ›Christlich-Demokratische Partei‹ und die ›Parteilosen‹ — eigentlich die ehemaligen Hitler-Anhänger, welche heute unparteiisch sind … Die Kommunisten und Sozialisten haben nur wenige Mandate bekommen.

Ein Zeuge unserer Delegation, das Akademiemitglied Orbeli, ist heute schon beim Prozess aufgetreten. Er hat etwa fünfzehn Minuten darüber geredet, wie die Deutschen in Leningrad Kulturdenkmäler zerstörten. Wie man mir mitteilt, hat seine Aussage einen sehr starken Eindruck hinterlassen. Er hat überlegt geredet und die Fragen der Verteidigung schlagfertig pariert.

Wann ich meine Aussage machen werde und ob die Sprachfrage schon geklärt ist — das weiß ich immer noch nicht. Ich bin nervös und zweifle daran, dass sich ein Übersetzer finden wird.

Es zeigt sich, dass die Amerikaner den Deutschen am feindlichsten gegenüberstehen. Im Gericht in Nürnberg gibt es ein Restaurant, wo die Ankläger, Richter und Übersetzer während der Pausen einen Imbiss zu sich nehmen. Auf der Tür steht geschrieben: Für Deutsche — welche Ämter sie auch immer inne haben — ist der Zutritt zum Restaurant verboten (gemeint sind die deutschen Verteidiger, Übersetzer und dergleichen mehr).

In der amerikanischen Presse wird heftig diskutiert, ob es den amerikanischen Soldaten erlaubt sein solle, deutsche Frauen zu heiraten. Bisher ist es verboten. Auch Frau Roosevelt, die eben von ihrer Deutschlandreise zurückkehrt, meint, dass es amerikanischen Soldaten nicht erlaubt sein solle, deutsche Frauen zu heiraten.

Heute abend sah ich, wie bei unserem ›Grand Hotel‹ eine junge Deutsche spazierte
und mit einem amerikanischen Soldaten anzubandeln versuchte. Gemeinsam mit einem Kameraden verprügelte der Amerikaner die Deutsche so heftig, dass sie bewusstlos zu Boden fiel. Währenddessen gingen zornig blickende Deutsche vorbei, die sich aber nicht trauten stehenzubleiben.

21. Februar

  1. Vor 75 Jahren: Avrom Sutzkever in Deutschland
  2. 17. Februar 1946
  3. 18. Februar
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  10. 25. Februar
  11. 26. Februar
  12. 27. Februar
  13. 1. März
  14. 6. März 1946

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Nürnberg, 21. Februar, 6 Uhr abends:

Gerade erst ist unser Flugzeug in dem ehemaligen Räubernest gelandet, wo der jetzt unschädlich gemachte Alfred Rosenberg einst seine antijüdischen Gesetze verkündete. Bis in alle Ewigkeit wird der Name Nürnberg in die Geschichte eingehen: Nürnberger Gesetze — Nürnberger Prozess. Symbolisch. Hier, wo die Losung von der Vernichtung des jüdischen Volks ihren Anfang nahm — hier werden jetzt die Verbrecher verurteilt. Und ich, vielleicht der einzige am Leben gebliebene jiddische Dichter aus dem besetzten Europa, ich komme jetzt zum Prozess in Nürnberg, nicht nur als Aussagender, sondern als lebendiger Zeuge der Unsterblichkeit meines Volks.

Ich bemerkte es schon in Berlin und jetzt noch einmal deutlicher: die Gebäude sind hier nicht zusammengewachsen wie etwa in Moskau. Jedes Gebäude ist getrennt vom nächsten. Die Architektur — eine mittelalterlich-gotische. Am besten gefallen mir die Gebäude, die zertrümmert liegen.

Der Strom der Passanten ist viel dichter als in Berlin. Neben Einheimischen gehen ebenso viele amerikanische Soldaten umher. Es fallen auch einige weitere Ausländer auf — man spürt, dass sich in der Stadt etwas Bedeutendes ereignet.

Wir wohnen im ›Grand Hotel‹. Einer seiner Flügel ist von einer Bombe zerstört.

Am Abend kam der sowjetische Hauptankläger Rudenko zu mir. Er erkundigte sich, wie es mir gehe und sagte, dass er mich heute ausruhen lasse und wir morgen alle Fragen bezüglich meines Auftritts als Zeuge beim Nürnberger Prozess besprechen
werden.


20. Februar

  1. Vor 75 Jahren: Avrom Sutzkever in Deutschland
  2. 17. Februar 1946
  3. 18. Februar
  4. 19. Februar
  5. 20. Februar
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  10. 25. Februar
  11. 26. Februar
  12. 27. Februar
  13. 1. März
  14. 6. März 1946

***

Berlin, 20. Februar:

Berlin. Ich überzeuge mich mit eigenen Augen, dass die russische Bezeichnung für die Stadt, Звериная берлога, Höhle der Bestie, sehr zutreffend ist. Sogar jetzt, wo die Stadt auf den Kopf gestellt wurde, macht sie noch immer den Eindruck einer Bestienhöhle. Ich fahre in einem Taxi durch die Stadt. Je näher ich dem Zentrum komme, desto deutlicher sind die Erfolge der ›fliegenden Festungen‹. Seit Stunden fahren wir durch alle Zonen. Die Straßen sind spärlich bevölkert. Hunderte von Deutschen streifen zwischen den Ruinen umher, trennen die Ziegel voneinander, reinigen und ordnen sie. Fast alle Deutschen, die auf der Straße gehen, tragen Rucksäcke oder Handkörbe. Darin sammeln sie Holzreste, Brot und dergleichen mehr. Das Zentrum der Stadt — Ruinen. Die amerikanischen und englischen Piloten waren Künstler. Der Asphalt ist überall fast unversehrt — aber die Gebäude liegen in Schutt und Asche an den Straßenrändern mit aufgerissenen Rachen.

Nun sind wir am berühmten Brandenburger Tor. Hier nahm Hitler die Paraden ab. Ringsherum — Leere. In der Leere — Ruinen. Der Alexanderplatz hat noch etwas von seinem ehemaligen Erscheinungsbild und sieht aus wie eine abgetakelte Straßendirne, die den Anschein von Jugend vorgaukelt. Der Tiergarten, Frankfurter Allee — abgewrackt. Die Spree — voll mit gekenterten Schiffen. Das hast du nun davon, Berlin! Doch es ist immer noch zu wenig für dich. Verflucht sollst du sein in alle Ewigkeit und dich nie wieder erheben!

Im sowjetischen Ministerium zeigt uns der Pförtner das Gebäude, in dem die Kapitulationserklärung unterzeichnet wurde. Ein graues, zweistöckiges Gebäude rechts im Hof.

Es scheint, als würden wir heute nicht nach Nürnberg fliegen. Das Wetter ist schlecht und der Flugverkehr ist eingestellt. Ich laufe durch die Straßen der Hauptstadt und schaue in die Gesichter der Passanten. Ich überzeuge mich noch einmal, dass die Deutschen sehr begabte Idioten sind. Es würde mich nicht stören, wenn von ihrem ganzen Land und Volk nicht die geringste Spur bliebe.

Ich bringe in Erfahrung, dass die arbeitenden Deutschen 500 Gramm, die nichtarbeitenden 400 Gramm Weißbrot am Tag bekommen.

Es erscheinen viele Zeitungen. Deutsche Volkszeitung (kommunistisch); Zeitung für das deutsche Volk und andere. Interessant, dass der Nürnberger Prozess fast nicht erwähnt wird. Stattdessen finde ich Artikel über Luther, über Heine (in der kommunistischen) und Gedichte von frisch gebackenen deutschen Poeten.

19. Februar

  1. Vor 75 Jahren: Avrom Sutzkever in Deutschland
  2. 17. Februar 1946
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  10. 25. Februar
  11. 26. Februar
  12. 27. Februar
  13. 1. März
  14. 6. März 1946

[den opfern und überlebenden von hanau gewidmet]

***

19. Februar:

Die Straße vom Erholungsheim zum Flughafen in Minsk ist verschneit. Unser Auto kommt kaum von der Stelle. Man ruft einen Trupp Deutsche heraus. Sie stapfen im Schnee und schaufeln für uns den Weg frei. Wir fliegen weiter. Der Himmel, eben noch sonnig, ist nun, so scheint es, wolkenverhangen. Das Flugzeug fliegt in drei Kilometern Höhe. Dann lässt es sich weiter hinab. Die beschlagenen Scheiben beginnen ein wenig zu tauen. Ich sehe, wie die Landschaft anfängt sich zu verändern. Wir fliegen über Deutschland. Die Dörfer — rote, zweistöckige Gebäude. Das Flugzeug fliegt nun sehr bodennah: in jedem Dorf — eine rote Backsteinkirche im mittelalterlichen Stil. Alles ist rot, vollgesogen mit unserem Blut. Die Landschaft ist eine künstliche. Nirgends naturbelassener Wald, alles abgegrenzt. Rechteckig.

Wir landen in Landsberg. In Berlin herrscht Sturm. Landsberg — eine große, weitläufige Stadt. Sie gehört jetzt zu Polen. Die polnische Sprache klingt auf dem deutschen Boden für mich etwas eigenartig. […]

Wir fahren mit Autos nach Berlin. 70 Kilometer vor Berlin, in Küstrin, liegt die polnische Grenze. Man kontrolliert uns. Wir fahren weiter. Schon sind wir in Herzfelde. Ein Vorort von Berlin. Wir gehen in ein Wirtshaus. Eine blonde deutsche Bestie, mit einem falschen, ekelhaft-aufreizenden Lächeln, bringt uns Bier. Sie heißt Frau Schulze. In der Nähe spielt ein dreijähriges Kind mit einer Puppe. Die Dreijährige ist bereits eine deutsche Frau, mit allem was dazugehört. Die Augen sind hasserfüllt, als stieße aus ihnen ein Schlachtmesser hervor. Wie viele jüdische Kinder sind verbrannt und erstickt worden beim Lächeln und mit der Hilfe von solchen kleineren und größeren Schulzes!

Nacht. Berlin. Gerade erst war es, dass hier die braune Pest wütete. Im Ghetto konnte ich mir kaum vorstellen, je diesen Boden zu betreten. Wir fahren in die sowjetische Zone. Nach einem Bankett bringt man uns ins Hotel. Wie höflich die Deutschen um uns sind! Die Bedienstete bringt mir ein Kissen aufs Zimmer, ihr eigenes Kissen, wie sie sagt, denn es fehlt an Bettzeug.

In der Küche des Hotelzimmers hängt ein Teller mit einer charakteristischen deutschen Aufschrift:

Der größte Schatz
für einen Mann
ist die Frau
die kochen kann.

Und oben — eine große Aufschrift: Die Sonne mit uns, als hätten die Deutschen im Voraus geahnt, dass hier eine Zone sein wird — eine sowjetische, eine amerikanische und so weiter. Ich falle aufs Bett. Den Tränen nahe.

18. Februar

  1. Vor 75 Jahren: Avrom Sutzkever in Deutschland
  2. 17. Februar 1946
  3. 18. Februar
  4. 19. Februar
  5. 20. Februar
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  7. 22. Februar
  8. 23. Februar
  9. 24. Februar
  10. 25. Februar
  11. 26. Februar
  12. 27. Februar
  13. 1. März
  14. 6. März 1946

***

18. Februar:

Moskau, Flughafen Vnukovo. Wir fliegen. Wir sind neun Zeugen. Zwei Begleiter. Unter den Zeugen — Iosif Abgarovic Orbeli, der weltberühmte armenische Gelehrte; Nikolaj Ivanovic Lomakin, der Priester aus Leningrad, welcher dort die Blockade überlebt hat; der Kunstprofessor Dmitriev, auch aus Leningrad; Dr. Evgenij Kivil’sa, der ehemalige Kriegsgefangene aus Proskurov, der im Kriegsgefangenenlager Rakovo war; Dovid Iosifovic Budnik (ein Jude aus Kiev), der aus Babij Jar fliehen konnte; zwei junge belarussische Frauen, die aus Auschwitz und Maidanek gerettet wurden; Jakov Grigor’ev, Vorsteher einer Kolchose im Oblast Pskov, welche die Deutschen, zusammen mit den Kolchosearbeitern, niederbrannten; Tarkovskij, der Kriegsgefangene vom Großlazarett in Slavuta. Der belgische Militärattaché fliegt auch mit.

Wir landen in Minsk. Hier begleitet man uns zu dem Gebäude eines Erholungsheims. Während des Banketts, am Abend, erhebt Orbeli sein Glas auf das Zusammenleben aller Völker mit dem jüdischen Volk. Orbeli beeindruckt. Besitzt jüdischen Scharfsinn. Hätte er mir nicht ausdrücklich gesagt, dass er Armenier ist, wäre ich geneigt, ihn für einen Juden zu halten. Der Priester, ein volkstümlicher Charakter gogolscher Art, bringt patriotische Trinksprüche aus und bekreuzigt sich. Er bemerkt, dass die Kellnerin aus seiner Geburtsstadt Kaluga stammt — überfällt sie mit Küssen und säuft wie ein Loch.

17. Februar 1946

  1. Vor 75 Jahren: Avrom Sutzkever in Deutschland
  2. 17. Februar 1946
  3. 18. Februar
  4. 19. Februar
  5. 20. Februar
  6. 21. Februar
  7. 22. Februar
  8. 23. Februar
  9. 24. Februar
  10. 25. Februar
  11. 26. Februar
  12. 27. Februar
  13. 1. März
  14. 6. März 1946
Hier und im folgenden: Details aus dem Zyklus berliner zeyde von A. Beck, Mischtechnik auf Fotokopie, 2019

***

17. Februar:

Das Protokoll meiner Zeugenaussage ist bereits fertig. Mit einem Taxi fährt man mich durch ganz Moskau und kleidet mich ein. Morgen, sechs Uhr in der Früh, muss ich zu Chomic kommen. Ich werde nach Nürnberg fliegen. Es ist schon lange her, dass mich ein so starkes inneres Erleben beherrschte. Ich stand zehn Minuten vor meiner Wohnung und habe sie nicht erkannt. Ich spüre die enorme Verantwortung meiner Reise. Ich bete, dass die ausgelöschten Seelen der Ermordeten durch meine Rede Klage führen. Ich will Jiddisch reden. Unbedingt Jiddisch. Ich habe darüber mit Erenburg, mit dem Ankläger Smirnov und allen anderen gesprochen. Ich will in der Sprache des Volkes sprechen, welches sich die Angeklagten anmaßten auszurotten, zusammen mit seiner Sprache. Man soll unsere Muttersprache hören. Man soll unsere Sprache hören und Alfred Rosenberg soll vor Wut platzen. Möge meine Sprache in Nürnberg triumphieren als ein Symbol von Unvergänglichkeit.

Vor 75 Jahren: Avrom Sutzkever in Deutschland

  1. Vor 75 Jahren: Avrom Sutzkever in Deutschland
  2. 17. Februar 1946
  3. 18. Februar
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  8. 23. Februar
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  10. 25. Februar
  11. 26. Februar
  12. 27. Februar
  13. 1. März
  14. 6. März 1946
Arndt Beck (Hg.), In Sodom — Avrom Sutzkever in Deutschland, Leipzig, Berlin 2020

Heute vor genau 75 Jahren begann in Moskau die Reise des jiddischen Dichters Avrom Sutzkever nach Deutschland, um für den sowjetischen Ankläger beim Nürnberger Prozess als Zeuge auszusagen. Aus diesem Anlaß poste ich in den kommenden Wochen täglich seine Tagebucheindrücke, die kommentiert und begleitet von Gedichten und Zeichnungen unlängst von mir bei Hentrich & Hentrich herausgegeben wurden.

Rezensionen:

4. Januar 2021, Leipziger Internet Zeitung
15. März 2021, junge Welt
26. März 2021, Zukunft (pdf, S. 6/7, deutsch und russisch)
Mai 2021, Wina

***

Moskau, 16. Februar 1946:

Mit Mühe und Not heute von Vilna nach Moskau gelangt. Wäre Kravetski, der Verwalter der Vilnaer Philharmonie nicht gewesen — niemals hätte ich ein Ticket erhalten und hätte so die ganze Angelegenheit verpasst. In Moskau — große Aufregung. Alle suchen mich. Erenburg rief zweimal bei mir an. Teumin vom Informbüro ist sich sicher, dass ich zu spät bin. Ich darf gar nicht daran denken. Ich habe wahrhaftig das Auftreten als Zeuge bei diesem Prozess von welthistorischer Bedeutung verpasst? Ich rufe Chomic an, von dem mein Auftritt abhängt. Seiner Antwort nach bin ich mir sicher, dass ich zu spät angekommen bin.

Ich gehe hinunter auf die Straße, ins Komitee. Freydke ist nervös, obwohl sie glaubt, dass ich auf jeden Fall fahre. Ich rufe Erenburg an — fühle mich ihm gegenüber schuldig, war er es doch, der mich zum ersten Kandidaten der Anklage erklärte, und am Ende — zu spät. Er antwortet mir aber bestimmt, dass ich es weiterhin telefonisch versuchen soll.

Als ich abends zurückkomme, ist zu Hause alles in Aufruhr. Schon vier Anrufe vom Komitee, dass ich sofort kommen soll. Heißt das, doch nicht zu spät? Mit meinem Bündel Material laufe ich los. Man macht ein Protokoll meiner Zeugenaussage, das Ganze dauert fünf Stunden.