25. Februar

  1. Vor 75 Jahren: Avrom Sutzkever in Deutschland
  2. 17. Februar 1946
  3. 18. Februar
  4. 19. Februar
  5. 20. Februar
  6. 21. Februar
  7. 22. Februar
  8. 23. Februar
  9. 24. Februar
  10. 25. Februar
  11. 26. Februar
  12. 27. Februar
  13. 1. März
  14. 6. März 1946

***

25. Februar:

Die Chancen für mein Auftreten als Zeuge werden immer geringer. Ich bin der Einzige, dessen Auftritt noch nicht feststeht. Außer mir weiß schon jeder in unserer Gruppe, ob er aussagt oder nicht. Dass Tarkovskij, Grigor’ev und der Priester aussagen werden — das ist sicher. Heute wird über mein Schicksal entschieden. Morgen wird die sowjetische Anklage enden. Ich spüre, dass es Ungereimtheiten bezüglich meiner Zeugenaussage gibt. Was soll ich machen? Es ist nicht von mir abhängig. Die Wahrheit ist bitter: Nichts kann ich tun!

Nein, halt! Gerade ist der Vertreter der Anklage Oberst Smirnov bei mir gewesen! Morgen muss ich aussagen, aber — auf Russisch! Werde ich die Prüfung bestehen? Werde ich meine Pflicht vor der Geschichte, vor meinem Volk, erfüllen? Das weiß nur Gott allein!

24. Februar

  1. Vor 75 Jahren: Avrom Sutzkever in Deutschland
  2. 17. Februar 1946
  3. 18. Februar
  4. 19. Februar
  5. 20. Februar
  6. 21. Februar
  7. 22. Februar
  8. 23. Februar
  9. 24. Februar
  10. 25. Februar
  11. 26. Februar
  12. 27. Februar
  13. 1. März
  14. 6. März 1946

***

24. Februar:

Den ersten richtigen Spaziergang durch Nürnberg machten wir erst heute. Das Ausmaß der Zerstörung ist sehr viel größer, als es mir anfangs vorkam. Etwa 80 Prozent der Stadt liegt in Trümmern. Dabei ist bemerkenswert, dass die Amerikaner Nürnberg erst im Januar 1945 bombardierten. Das gesamte Bombardement dauerte nur acht Tage. In diesen acht Tagen wurde die tausendjährige Stadt in Schutt und Asche gelegt.

Der hinkende Deutsche, der uns durch Nürnberg führt, prahlt damit, dass er bis zum Zweiten Weltkrieg zwei Millionen Deutschen die Stadt gezeigt habe. In einem fort präsentiert er uns zerstörte Gebäude: hier hat Hitler eine Parade abgenommen, hier sind die Bierkeller, in denen er Bier trank und die Vernichtung vorbereitete; hier ist die Kirche Sankt Sebaldus, die fünfhundert Jahre alt ist; dort — die Frauenkirche; auf einem Hügel links — das zertrümmerte, zweistöckige grüne Haus, wo Albrecht Dürer wohnte und arbeitete — der deutsche Maler, Bildhauer und Festungsbauer.

Nicht weit von diesem Haus steht wahrhaftig eine große Bronzestatue für Albrecht Dürer. Das Denkmal ist rußgeschwärzt. Der Sockel schwer beschädigt. Und das Auge des Meisters ist von einem Bombensplitter durchschlagen.

Rund um die ganze Stadt, in einem Kreis von acht Kilometern — zwei massive Festungsmauern und dazwischen ein tiefer Graben. Auf den Mauern — Wachtürme. Wir besuchen Nürnbergs ältesten Friedhof. Hier sehen wir das Grab Dürers und eines seiner Gemälde auf der Wand einer Kapelle. In der Kapelle sehen wir auch Skulpturen von Adam Kraft.

Unter den Grabsteinen, acht Meter in der Tiefe, in Katakomben aus rotem Backstein — befinden sich die Särge. An einigen Stellen haben Bomben die Decken zerstört und wir sehen die Särge in der Tiefe deutlich. Interessant sind die Bronze-Basreliefs auf den Grabsteinen, gefertigt im 16. Jahrhundert in Vischers berühmten Gießereien.

Wie ich bei der Rückkehr ins Hotel erfahre, ist es so gut wie beschlossene Sache, dass von unserer Gruppe auf dem Prozess nur vier Zeugen aussagen: Jakov Grigor’ev, der Priester Nikolaj Ivanovic Lomakin, Tarkovskij, der sich aus dem Großlazarett rettete, und ich. Hoffentlich bleibt es bei diesem Beschluss.

Der Zeuge Dovid Budnik, Elektroingenieur, geboren 1911 in Belaja Cerkov’, wohnhaft in Kiev, berichtet mir:

1941 war ich in der Roten Armee mobilisiert. Am 19. September drangen die Deutschen in das von ihnen eingekesselte Kiev vor. Einige Tage später fasste man mich und ich wurde zur Arbeit gezwungen. Von da geflohen. Bei einer zweiten Razzia auf dem Krescatik wurde ich in ein Lager auf der Kerosinnaja ulica abgeführt. Dort befanden sich etwa 3.000 Juden. Fünf ganze Tage gab man ihnen nichts zu essen. Kinder bis zum Alter von 16 Jahren und Menschen über 50 Jahre alt hat man selektiert. Sie wurden abgeführt und wenig später brachte man ihre Kleidung zurück. Ich durchlief mehrere Selektionen und wurde ins Konzentrationslager Syrec hinter Kiev deportiert.

Im Lager Syrec befanden sich einige tausend Menschen unterschiedlichster Nationalitäten, darunter etwa 200 Kiever Juden. Der Kommandant Radomski, stets in Begleitung seines Hundes Rex, dachte sich die wüstesten Folterungen aus. So befahl er etwa seinem Opfer eine hohe Pappel hinaufzuklettern, am Wipfel einen Strick anzubinden und den Strick auf die Erde zu werfen; dann befahl er den Baum abzusägen und an dem Strick zu ziehen — bis das Opfer mit dem Baum herunterfiel und starb.

Am 18. August 1943 selektierten die Deutschen aus dem Lager hundert Gefangene, darunter 60 Juden, der Rest Ukrainer und Russen und verschleppten uns nach Babij Jar. Dort führte man uns Unglückliche zu einem Graben hinunter, legte unsere Füße in Ketten und sperrte uns in einen Bunker. Man befahl uns die Toten auszugraben und sie zu verbrennen. Unser Kommandant hieß Topheide. Nach einigen Tagen kamen weitere 350 Personen zu uns. Die Deutschen nannten uns Leichenverbrenner ›Figuren‹ — so wie sie auch die Leichen bezeichneten.

Jeden Tag erreichten Gaswagen Babij Jar und luden 60–70 Vergaste aus. Wir hörten ständig aus den Gaswagen verzweifelte Schreie. Wenn die Tür sich öffnete — waren einige Menschen noch halb lebendig. Die Deutschen erschossen sie dann. Es gab nur einen Fall, bei dem ein Kirovgrader am Leben blieb. Im Gaswagen benetzte er sein Hemd mit Urin und hielt es sich vor Nase und Mund, so dass das Gas nicht durchdrang.

Nachdem wir alle Toten verbrannt hatten — etwa 80.000, sahen wir, wie eine zweite Gruppe zwei große Öfen baute. Wir verstanden sofort, dass diese Öfen für uns sind.

Fast von Anfang an existierte im Bunker eine Untergrund-Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hatte, zu fliehen. In der Nacht des 29. Septembers 1943 haben wir mit einem Schlüssel, den wir bei den Toten gefunden hatten, die Bunkertür geöffnet, brachen aus und stürzten uns mit lautem Gebrüll auf die Deutschen. Nach einem kurzen Kampf, bei dem einige Deutsche fielen, verteilten wir uns über das Tal. So wie wir, brachen auch die Leichenverbrenner aus dem zweiten Bunker aus und stürzten sich mit Spitzhacken auf die Deutschen. Sofort wurden Leuchtraketen gezündet. Von allen Leichenverbrennern blieben 14 am Leben. Unter ihnen: Vladimir Davidov, Iankl Kaper, Leonid Ostrovski, Vladimir Kuklia, Chaim Vilkins, Leonid Doliner, Ziame Trubakov, Brodski, Dovid Budnik, Volodye Kotliar und Senia Berliand.

23. Februar

  1. Vor 75 Jahren: Avrom Sutzkever in Deutschland
  2. 17. Februar 1946
  3. 18. Februar
  4. 19. Februar
  5. 20. Februar
  6. 21. Februar
  7. 22. Februar
  8. 23. Februar
  9. 24. Februar
  10. 25. Februar
  11. 26. Februar
  12. 27. Februar
  13. 1. März
  14. 6. März 1946

***

23. Februar:

Unterdessen ist noch immer unklar, wann wir aussagen werden. Wahrscheinlich wird ein Teil unserer Zeugen überhaupt nicht zu Wort kommen. In Kürze wird es sich zeigen. Falls ich nicht aussagen werde, wird es wenigstens nicht meine Schuld sein. Es würde mich in der Tat sehr verärgern, aber ich kann nichts daran ändern.

Heute habe ich einen Spaziergang durch Nürnberg gemacht. Halb zerstörte gotische und vorgotische Kirchen. Die Stadt ist voll von Mittelalter. Überall alte Schlösser und Festungen.

Ich lese deutsche Zeitungen. Allenthalben diskutiert man über das ›Entnazifizierungsgesetz Nr. 8‹. Das heißt, die Entlassung ehemaliger Nazis aus den Unternehmen. So ist zum Beispiel der Leiter der Berliner Philharmoniker, der weltberühmte deutsche Dirigent Wilhelm Furtwängler, wegen der Zusammenarbeit mit Hitler entlassen worden. Die amerikanische Presse schreibt, dass in der Nürnberger Stadtverwaltung noch immer um die 1.000 ehemals aktive Nationalsozialisten arbeiten. Ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung verteidigt sich in der Zeitung Nürnberger Nachrichten, es seien nicht 1.000, sondern nur 900. Die Deutschen sind jetzt in viele Kategorien eingeteilt. Nationalsozialisten und Militaristen werden entlassen und zum Teil inhaftiert. Dafür geht man mit den ›Mitläufern‹ nachsichtiger um. Sie haben sogar das Recht, den Parteien beizutreten. Auch Jugendliche werden gesondert betrachtet. An jeder Organisation, jedem Klub und jedem Vorhaben müssen sieben ausgewiesene Antifaschisten beteiligt sein. Und bei jeder Sitzung müssen wenigstens fünf von ihnen anwesend sein.

Mit unseren Zeugenaussagen wird es immer komplizierter. Wie ich gerade erfahren habe, werden wohl nur vier Personen als Zeugen auftreten (zusätzlich zu Orbeli, der ja schon ausgesagt hat). Wer sind die vier? Werde ich dazu gehören? Das weiß nur Gott allein.

22. Februar

  1. Vor 75 Jahren: Avrom Sutzkever in Deutschland
  2. 17. Februar 1946
  3. 18. Februar
  4. 19. Februar
  5. 20. Februar
  6. 21. Februar
  7. 22. Februar
  8. 23. Februar
  9. 24. Februar
  10. 25. Februar
  11. 26. Februar
  12. 27. Februar
  13. 1. März
  14. 6. März 1946

***

Nürnberg, 22. Februar:

Rudenko ist schon informiert, dass ich auf Jiddisch aussagen will. Er wird sich wegen dieser Angelegenheit heute mit dem Hauptankläger Jackson besprechen. Falls es nur technisch irgend möglich ist, werde ich Jiddisch reden. Andere Hindernisse gibt es für mein Gefühl nicht. Tatsächlich ist es beim Prozess der erste Fall, bei dem auf Jiddisch ausgesagt werden soll. Ich bitte Gott, dass sich ein Übersetzer findet. Unterdessen mache ich mir Notizen anhand meiner mitgebrachten Materialien.

Je länger ich die Deutschen beobachte, ihre stumpfsinnigen, lakaisch-unterwürfigen Visagen — umso verständlicher wird mir, warum Hitler gerade hier ausgebrütet wurde. Genau betrachtet hat Hitler ihnen viel gegeben: er hat die Juden ermordet oder aus Deutschland vertrieben und ihr Vermögen riss sich die ›auserwählte Rasse‹ unter den Nagel; er hat Länder erobert und die Deutschen zum ›Herrenvolk‹ erklärt. Was brauchten sie mehr? Die Masse liebt es, geführt zu werden. Wozu selbst denken, wenn in Nürnberg oder Berlin ein Hitler sitzt, der es besser weiß und klüger ist als der Rest der Welt?

Interessant: Vor einem Monat gab es in Bayern Wahlen. Fast 90 Prozent der Stimmen bekamen die ›Christlich-Demokratische Partei‹ und die ›Parteilosen‹ — eigentlich die ehemaligen Hitler-Anhänger, welche heute unparteiisch sind … Die Kommunisten und Sozialisten haben nur wenige Mandate bekommen.

Ein Zeuge unserer Delegation, das Akademiemitglied Orbeli, ist heute schon beim Prozess aufgetreten. Er hat etwa fünfzehn Minuten darüber geredet, wie die Deutschen in Leningrad Kulturdenkmäler zerstörten. Wie man mir mitteilt, hat seine Aussage einen sehr starken Eindruck hinterlassen. Er hat überlegt geredet und die Fragen der Verteidigung schlagfertig pariert.

Wann ich meine Aussage machen werde und ob die Sprachfrage schon geklärt ist — das weiß ich immer noch nicht. Ich bin nervös und zweifle daran, dass sich ein Übersetzer finden wird.

Es zeigt sich, dass die Amerikaner den Deutschen am feindlichsten gegenüberstehen. Im Gericht in Nürnberg gibt es ein Restaurant, wo die Ankläger, Richter und Übersetzer während der Pausen einen Imbiss zu sich nehmen. Auf der Tür steht geschrieben: Für Deutsche — welche Ämter sie auch immer inne haben — ist der Zutritt zum Restaurant verboten (gemeint sind die deutschen Verteidiger, Übersetzer und dergleichen mehr).

In der amerikanischen Presse wird heftig diskutiert, ob es den amerikanischen Soldaten erlaubt sein solle, deutsche Frauen zu heiraten. Bisher ist es verboten. Auch Frau Roosevelt, die eben von ihrer Deutschlandreise zurückkehrt, meint, dass es amerikanischen Soldaten nicht erlaubt sein solle, deutsche Frauen zu heiraten.

Heute abend sah ich, wie bei unserem ›Grand Hotel‹ eine junge Deutsche spazierte
und mit einem amerikanischen Soldaten anzubandeln versuchte. Gemeinsam mit einem Kameraden verprügelte der Amerikaner die Deutsche so heftig, dass sie bewusstlos zu Boden fiel. Währenddessen gingen zornig blickende Deutsche vorbei, die sich aber nicht trauten stehenzubleiben.

21. Februar

  1. Vor 75 Jahren: Avrom Sutzkever in Deutschland
  2. 17. Februar 1946
  3. 18. Februar
  4. 19. Februar
  5. 20. Februar
  6. 21. Februar
  7. 22. Februar
  8. 23. Februar
  9. 24. Februar
  10. 25. Februar
  11. 26. Februar
  12. 27. Februar
  13. 1. März
  14. 6. März 1946

***

Nürnberg, 21. Februar, 6 Uhr abends:

Gerade erst ist unser Flugzeug in dem ehemaligen Räubernest gelandet, wo der jetzt unschädlich gemachte Alfred Rosenberg einst seine antijüdischen Gesetze verkündete. Bis in alle Ewigkeit wird der Name Nürnberg in die Geschichte eingehen: Nürnberger Gesetze — Nürnberger Prozess. Symbolisch. Hier, wo die Losung von der Vernichtung des jüdischen Volks ihren Anfang nahm — hier werden jetzt die Verbrecher verurteilt. Und ich, vielleicht der einzige am Leben gebliebene jiddische Dichter aus dem besetzten Europa, ich komme jetzt zum Prozess in Nürnberg, nicht nur als Aussagender, sondern als lebendiger Zeuge der Unsterblichkeit meines Volks.

Ich bemerkte es schon in Berlin und jetzt noch einmal deutlicher: die Gebäude sind hier nicht zusammengewachsen wie etwa in Moskau. Jedes Gebäude ist getrennt vom nächsten. Die Architektur — eine mittelalterlich-gotische. Am besten gefallen mir die Gebäude, die zertrümmert liegen.

Der Strom der Passanten ist viel dichter als in Berlin. Neben Einheimischen gehen ebenso viele amerikanische Soldaten umher. Es fallen auch einige weitere Ausländer auf — man spürt, dass sich in der Stadt etwas Bedeutendes ereignet.

Wir wohnen im ›Grand Hotel‹. Einer seiner Flügel ist von einer Bombe zerstört.

Am Abend kam der sowjetische Hauptankläger Rudenko zu mir. Er erkundigte sich, wie es mir gehe und sagte, dass er mich heute ausruhen lasse und wir morgen alle Fragen bezüglich meines Auftritts als Zeuge beim Nürnberger Prozess besprechen
werden.


20. Februar

  1. Vor 75 Jahren: Avrom Sutzkever in Deutschland
  2. 17. Februar 1946
  3. 18. Februar
  4. 19. Februar
  5. 20. Februar
  6. 21. Februar
  7. 22. Februar
  8. 23. Februar
  9. 24. Februar
  10. 25. Februar
  11. 26. Februar
  12. 27. Februar
  13. 1. März
  14. 6. März 1946

***

Berlin, 20. Februar:

Berlin. Ich überzeuge mich mit eigenen Augen, dass die russische Bezeichnung für die Stadt, Звериная берлога, Höhle der Bestie, sehr zutreffend ist. Sogar jetzt, wo die Stadt auf den Kopf gestellt wurde, macht sie noch immer den Eindruck einer Bestienhöhle. Ich fahre in einem Taxi durch die Stadt. Je näher ich dem Zentrum komme, desto deutlicher sind die Erfolge der ›fliegenden Festungen‹. Seit Stunden fahren wir durch alle Zonen. Die Straßen sind spärlich bevölkert. Hunderte von Deutschen streifen zwischen den Ruinen umher, trennen die Ziegel voneinander, reinigen und ordnen sie. Fast alle Deutschen, die auf der Straße gehen, tragen Rucksäcke oder Handkörbe. Darin sammeln sie Holzreste, Brot und dergleichen mehr. Das Zentrum der Stadt — Ruinen. Die amerikanischen und englischen Piloten waren Künstler. Der Asphalt ist überall fast unversehrt — aber die Gebäude liegen in Schutt und Asche an den Straßenrändern mit aufgerissenen Rachen.

Nun sind wir am berühmten Brandenburger Tor. Hier nahm Hitler die Paraden ab. Ringsherum — Leere. In der Leere — Ruinen. Der Alexanderplatz hat noch etwas von seinem ehemaligen Erscheinungsbild und sieht aus wie eine abgetakelte Straßendirne, die den Anschein von Jugend vorgaukelt. Der Tiergarten, Frankfurter Allee — abgewrackt. Die Spree — voll mit gekenterten Schiffen. Das hast du nun davon, Berlin! Doch es ist immer noch zu wenig für dich. Verflucht sollst du sein in alle Ewigkeit und dich nie wieder erheben!

Im sowjetischen Ministerium zeigt uns der Pförtner das Gebäude, in dem die Kapitulationserklärung unterzeichnet wurde. Ein graues, zweistöckiges Gebäude rechts im Hof.

Es scheint, als würden wir heute nicht nach Nürnberg fliegen. Das Wetter ist schlecht und der Flugverkehr ist eingestellt. Ich laufe durch die Straßen der Hauptstadt und schaue in die Gesichter der Passanten. Ich überzeuge mich noch einmal, dass die Deutschen sehr begabte Idioten sind. Es würde mich nicht stören, wenn von ihrem ganzen Land und Volk nicht die geringste Spur bliebe.

Ich bringe in Erfahrung, dass die arbeitenden Deutschen 500 Gramm, die nichtarbeitenden 400 Gramm Weißbrot am Tag bekommen.

Es erscheinen viele Zeitungen. Deutsche Volkszeitung (kommunistisch); Zeitung für das deutsche Volk und andere. Interessant, dass der Nürnberger Prozess fast nicht erwähnt wird. Stattdessen finde ich Artikel über Luther, über Heine (in der kommunistischen) und Gedichte von frisch gebackenen deutschen Poeten.

19. Februar

  1. Vor 75 Jahren: Avrom Sutzkever in Deutschland
  2. 17. Februar 1946
  3. 18. Februar
  4. 19. Februar
  5. 20. Februar
  6. 21. Februar
  7. 22. Februar
  8. 23. Februar
  9. 24. Februar
  10. 25. Februar
  11. 26. Februar
  12. 27. Februar
  13. 1. März
  14. 6. März 1946

[den opfern und überlebenden von hanau gewidmet]

***

19. Februar:

Die Straße vom Erholungsheim zum Flughafen in Minsk ist verschneit. Unser Auto kommt kaum von der Stelle. Man ruft einen Trupp Deutsche heraus. Sie stapfen im Schnee und schaufeln für uns den Weg frei. Wir fliegen weiter. Der Himmel, eben noch sonnig, ist nun, so scheint es, wolkenverhangen. Das Flugzeug fliegt in drei Kilometern Höhe. Dann lässt es sich weiter hinab. Die beschlagenen Scheiben beginnen ein wenig zu tauen. Ich sehe, wie die Landschaft anfängt sich zu verändern. Wir fliegen über Deutschland. Die Dörfer — rote, zweistöckige Gebäude. Das Flugzeug fliegt nun sehr bodennah: in jedem Dorf — eine rote Backsteinkirche im mittelalterlichen Stil. Alles ist rot, vollgesogen mit unserem Blut. Die Landschaft ist eine künstliche. Nirgends naturbelassener Wald, alles abgegrenzt. Rechteckig.

Wir landen in Landsberg. In Berlin herrscht Sturm. Landsberg — eine große, weitläufige Stadt. Sie gehört jetzt zu Polen. Die polnische Sprache klingt auf dem deutschen Boden für mich etwas eigenartig. […]

Wir fahren mit Autos nach Berlin. 70 Kilometer vor Berlin, in Küstrin, liegt die polnische Grenze. Man kontrolliert uns. Wir fahren weiter. Schon sind wir in Herzfelde. Ein Vorort von Berlin. Wir gehen in ein Wirtshaus. Eine blonde deutsche Bestie, mit einem falschen, ekelhaft-aufreizenden Lächeln, bringt uns Bier. Sie heißt Frau Schulze. In der Nähe spielt ein dreijähriges Kind mit einer Puppe. Die Dreijährige ist bereits eine deutsche Frau, mit allem was dazugehört. Die Augen sind hasserfüllt, als stieße aus ihnen ein Schlachtmesser hervor. Wie viele jüdische Kinder sind verbrannt und erstickt worden beim Lächeln und mit der Hilfe von solchen kleineren und größeren Schulzes!

Nacht. Berlin. Gerade erst war es, dass hier die braune Pest wütete. Im Ghetto konnte ich mir kaum vorstellen, je diesen Boden zu betreten. Wir fahren in die sowjetische Zone. Nach einem Bankett bringt man uns ins Hotel. Wie höflich die Deutschen um uns sind! Die Bedienstete bringt mir ein Kissen aufs Zimmer, ihr eigenes Kissen, wie sie sagt, denn es fehlt an Bettzeug.

In der Küche des Hotelzimmers hängt ein Teller mit einer charakteristischen deutschen Aufschrift:

Der größte Schatz
für einen Mann
ist die Frau
die kochen kann.

Und oben — eine große Aufschrift: Die Sonne mit uns, als hätten die Deutschen im Voraus geahnt, dass hier eine Zone sein wird — eine sowjetische, eine amerikanische und so weiter. Ich falle aufs Bett. Den Tränen nahe.

18. Februar

  1. Vor 75 Jahren: Avrom Sutzkever in Deutschland
  2. 17. Februar 1946
  3. 18. Februar
  4. 19. Februar
  5. 20. Februar
  6. 21. Februar
  7. 22. Februar
  8. 23. Februar
  9. 24. Februar
  10. 25. Februar
  11. 26. Februar
  12. 27. Februar
  13. 1. März
  14. 6. März 1946

***

18. Februar:

Moskau, Flughafen Vnukovo. Wir fliegen. Wir sind neun Zeugen. Zwei Begleiter. Unter den Zeugen — Iosif Abgarovic Orbeli, der weltberühmte armenische Gelehrte; Nikolaj Ivanovic Lomakin, der Priester aus Leningrad, welcher dort die Blockade überlebt hat; der Kunstprofessor Dmitriev, auch aus Leningrad; Dr. Evgenij Kivil’sa, der ehemalige Kriegsgefangene aus Proskurov, der im Kriegsgefangenenlager Rakovo war; Dovid Iosifovic Budnik (ein Jude aus Kiev), der aus Babij Jar fliehen konnte; zwei junge belarussische Frauen, die aus Auschwitz und Maidanek gerettet wurden; Jakov Grigor’ev, Vorsteher einer Kolchose im Oblast Pskov, welche die Deutschen, zusammen mit den Kolchosearbeitern, niederbrannten; Tarkovskij, der Kriegsgefangene vom Großlazarett in Slavuta. Der belgische Militärattaché fliegt auch mit.

Wir landen in Minsk. Hier begleitet man uns zu dem Gebäude eines Erholungsheims. Während des Banketts, am Abend, erhebt Orbeli sein Glas auf das Zusammenleben aller Völker mit dem jüdischen Volk. Orbeli beeindruckt. Besitzt jüdischen Scharfsinn. Hätte er mir nicht ausdrücklich gesagt, dass er Armenier ist, wäre ich geneigt, ihn für einen Juden zu halten. Der Priester, ein volkstümlicher Charakter gogolscher Art, bringt patriotische Trinksprüche aus und bekreuzigt sich. Er bemerkt, dass die Kellnerin aus seiner Geburtsstadt Kaluga stammt — überfällt sie mit Küssen und säuft wie ein Loch.